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In ihrem letzten Brief an Uwe Johnson schreibt Hannah Arendt am 23. August 1975 (bevor sie im Dezember desselben Jahres starb):

"... Zum Arbeiten bin ich diesmal nicht recht gekommen, teils aus Faulheit und Genuss-Sucht, teils wegen Besuch, und weil eben Freunde unerwartet an diesem und jenem erkranken. Mir geht es gut und ich geniesse, im Unterschied zu den meisten meiner Freunde, nach wie vor das Alt-Sein. Dass es endlich, wie ich Ihnen vielleicht schon mitteilte, ein Ende mit dem Werden (Werde der Du bist) hat und man ruhig sein kann, der man geworden ist. Anders ausgedrückt, im Alter ist das Laster nicht nur, wie bekannt, der Geiz, sondern auch der Ehrgeiz. Kurz, sofern ich mir nicht den Kopf über meine Urteilskraft zerbreche und mich über Herrn Kant freue, was ich eigentlich soll, denke ich gern über das Altwerden (doch ein Werden?) nach und wundere mich, dass es seit Cicero’s De Senectute nichts Vernünftiges darüber gibt." ³


Die Anmerkung des Herausgebers des Briefwechsels zwischen Arendt und Johnson dazu:

³ Mit der Erinnerung an diese letzten Briefzeilen schließt Uwe Johnsons Nachruf auf Hannah Arendt: »Ich habe ihr zu danken für das, was sie mir gezeigt hat an Benehmen gegen Menschen, gegen das Alleinsein, gegen das Alter. Was sie mir schreibt in ihrem letzten Brief im August, es gehört zu ihr, aber ich bin doch dankbar und froh darüber, dass sie sagen konnte, sie geniesse nach wie vor das Alt-Sein. Es hat ein Ende mit dem Werden, und sie wundere sich, dass es seit Ciceros De Senectute nichts Vernünftiges darüber gebe. So war sie einverstanden mit ihrem Tod, wie jeder von uns einverstanden sein soll mit dem eigenen und den des anderen hinzunehmen sich weigert.«


In den 1920gern, als sie vom Alt-Sein noch weit entfernt war, verbrachte Hannah Arendt einige Zeit in meiner Stadt Freiburg. Vielleicht finde ich ja einige ihrer Gedanken in den Gassen, in denen sie sich im Ritzenmoos der Pflastersteine niedergelassen haben, um zu bleiben über Jahrhunderte hinweg, und um aufzusteigen ab und an in Berührungen mit Spaziergängern des offenen und weiten Geistes.

... ein Album auszupacken, es aufzuschlagen, das Cover zu betrachten, zu erfühlen, die Tracks zu durchforsten, die Songtexte zu lesen. Dann freudig wie ein Kind die Scheibe aus der Hülle zu ziehen, auf den Plattenteller zu legen und sie in ihre kreisende Bewegung zu bringen. Den kaum sichtbaren Staub mit einer Carbonbürste aus den Rillen zu entfernen, den Tonarm zu betrachten, wie er langsam auf die Platte niedersinkt und den ersten Kontakt des Tonabnehmers mit dem schwarzen Vinyl zu hören und für einen kurzen Moment dem leisen Grundrauschen zu lauschen.

Ja, ich bin seit einiger Zeit unter die Vinyl-Wiedereinsteiger geraten (nach über 40 Jahren) - in den letzten Monaten habe ich immer mehr einen Widerwillen in mir empfunden, wenn ich meine Musik gestreamt habe, mich hierhin und dorthin bewegt habe, viel zu schnell und springend, oftmals gar nicht zu Ende hörend. Und zeitgleich mit der Abmeldung von Instagram (wenigstens von einem der trumphörigen Medienmogulen möchte ich nicht mehr tangiert sein) reifte zunehmend der Gedanke: so nicht mehr! und zugleich die Sehnsucht nach der guten, alten Schallplatte. Und nach ein wenig Recherche stand dann auch ziemlich spontan (wie ich manchmal bin) ein Plattenspieler im Wohnzimmer und die nicht mehr vorhandene Plattensammlung beginnt nun wieder zu wachsen.

Es ist wirklich schön, diesen sentimental haptischen Prozess in Gang zu bringen und zu sehen wie die Platte sich dreht und wenn dann die ersten Töne so viele musikalische Erinnerungen triggern oder auch neue Klangwelten entdecken lassen, aus längst vergangener Zeit und natürlich auch aus der Gegenwart.

Noch bin ich dabei, meinem Hirn das über Jahrzehnte angeeignete Hören störungsfreier Musik abzutrainieren und sich nicht vom Knistern und Knacken stören zu lassen, das ab und an sich der Musik beimischt. Aber es gibt ja heutzutage noch das Plattenwaschen, doch das ist eine Insider-Wissenschaft, die ich erst langsam erkunden werde...

und nun lege ich mir am wolkenlosen, zeitumgestellten Sonntagmorgen Ella Fitzgerald auf, die das Song Book von Cole Porter singt, oder doch lieber Joni Mitchell? Oder Crosby Stills & Nash, die Byrds, Nina Simone oder vielleicht Arny Margret... Allein schon das Kramen in den Alben wie sonst auch in meinen Bücherregalen erfüllt fröhlich diesen frühen Tag, der lichtvoll in das Zimmer flutet...

 
  • 18. Feb.

Wer in diesen Tagen an das dekretische Wüten von D. Trump denkt und so auch an staatsdienstliche Massenentlassungen u.ä., der lese auch dies aus den Jahrestagen von Uwe Johnson.

 

Autor von Hirnstromern

Matthias Wagner - masaihtt@posteo.de

menschliche würde orthopädie des aufrechten gangs also kein gekrümmter rücken vor königsthronen nimm deine füße unter die arme und lauf cry baby nur der frieden ist es mein sohn wofür wir leben die beherrschung der natur ist gekoppelt an die verinnerlichte gewalt des menschen über den menschen gekoppelt an die gewalt des subjekts über seine eigene natur you can go all around the world trying to find something to do with your life baby when you only gotta do one thing well

Aus Wolkenbruch

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