

Hirnstromern


Alina Herbing
Tiere, vor denen man Angst haben muss
S. 151ff
»Madeleine?«
Ich zog mir die Decke vom Kopf, drückte auf der Fernbedienung der Anlage herum, bis die Musik leiser wurde, Ronja setzte sich auf die Bettkante. Sie trug ihre Winterjacke.
»Was ist los?«
Sie sagte nichts.
»Willst du unter die Decke kommen?«
»Ja«, sagte sie, zog die Jacke aus und schlüpfte zu mir ins Bett. Die Decke war zu klein für uns beide, überall strömte die kalte Luft herein. Ich zog Ronja so fest es ging an mich, umschlang sie mit meinen Armen und Beinen. Sie war noch dünner geworden. In all den dicken Klamotten, die sie im Winter trug, war es mir gar nicht aufgefallen, aber jetzt, mit ihr direkt an meinem Körper, spürte ich die Rippen, die Beckenknochen und wie wenig ich überhaupt zu umarmen hatte. Wir lagen ganz still da, die Wärme breitete sich zwischen uns aus. Wir durften uns nur nicht bewegen. Ronjas Haar roch nach Winter und Rauch. Ich hielt sie fest und spürte, wie ihr Körper ganz leicht zu beben begann. Sie zitterte, und das lag nicht an der Kälte. »Wir kriegen das schon hin«, flüsterte ich. Dann konnte auch ich nicht mehr sprechen. Wenn dir deine kleine Schwester weinend in den Armen liegt, das wusste ich, darfst du selbst auf keinen Fall auch anfangen zu weinen. Darum musste ich die Tränen hinunterschlucken, was so wehtat, als würde ich versuchen, Nadeln zu essen. Der Schmerz zog von meinem Hals in meinen Kopf hinauf und lenkte mich für einen Moment von dem zitternden Körper ab, der vor mır lag. Zwischendurch versuchte ich zu sagen, dass alles gut werden und unser Vater uns bestimmt bald eine Wohnung mieten würde, in der wir dann zusammen leben könnten. Wir müssten nur noch ein bisschen durchhalten. Ich war jedes Mal stolz darauf, wenn ich es geschafft hatte, nicht auch in Tränen ausgebrochen zu sein. Ronja drehte sich zu mir um und klammerte sich schluchzend an mich. »Du musst lernen, was zu sagen«, sagte ich. »Was dir nicht passt, dass du nicht glücklich bist. Das mache ich doch auch. Wie soll sonst irgendjemand wissen, wie es dir geht?« Ronjas Tränen sickerten in meinen Pullover. Sie wurde ruhiger, zitterte nur noch ab und zu. Der Kampf gegen das Weinen hatte mich schläfrig gemacht. Robbie Williams sang leise vor sich hin. »Und du musst mehr essen«, sagte ich. Dann atmeten wir einfach ruhig, Lunge an Lunge, und hörten zu, wie der Schneeregen gegen das Fenster schlug.

Anne Frank
Tagebuch
13.5.1949
Beste Kitty!
Die Stimmung hier ist noch sehr gespannt. Pim ist auf dem Siedepunkt, Frau van Daan liegt mit Erkältung im Bett und schimpft, Herr van Daan ist ohne Glimmstengel und blaß, Dussel, der viel von seiner Beqeumlichkeit geopfert hat, hat alle möglichen Beanstandungen usw. usw. Wir haben im Augenblick kein Glück. Das Klo ist undicht, der Hahn überdreht. Dank der vielen Beziehungen wird sowohl das eine als auch das andere schnell repariert sein.
Manchmal bin ich sentimental, das weiß ich, aber manchmal ist Sentimentalität auch angebracht. Wenn Peter und ich irgendwo zwischen Gerümpel und Staub auf einer harten Holzkiste sitzen, einer dem anderen den Arm um die Schulter gelegt hat, er mit einer Locke von mir in der Hand, und wenn draußen die Vögel trillern, wenn die Bäume grün werden, wenn die Sonne hinauslockt, wenn der Himmel so blau ist, oh, dann will ich so viel!
Nichts als unzufriedene und mürrische Gesichter sieht man hier, nichts als Seufzen und unterdrückte Klagen sind zu hören, und es scheint, als wäre plötzlich alles schrecklich geworden. In Wirklichkeit ist es hier so schlecht, wie man es sich selbst macht. Hier im Hinterhaus geht niemand mit gutem Beispiel voran, hier muß jeder selbst sehen, wie er mit seinen Launen klarkommt.
„Wäre es nur schon vorbei!“ Das hört man jeden Tag.
Meine Würde, meine Hoffnung, meine Liebe, mein Mut, das alles hält mich aufrecht und macht mich gut!
Kitty, ich glaube, ich spinne heute ein bißchen, und ich weiß nicht, warum. Alles steht durcheinander, man merkt keinen Zusammenhang, und ich bezweifle manchmal ernsthaft, ob sich später mal jemand für mein Geschwätz interessieren wird. „Die Bekenntnisse eines häßlichen jungen Entleins“ wird der ganze Unsinn dann heißen …

Arno Geiger
Unter der Drachenwand
198f
...
Das Kind war richtig dick geworden und hatte rote Wangen bekommen. Die Darmstädterin machte mit dem Kind Turnübungen, die Füße strecken und stoßen, an den Armen in der Luft hängen, an den Beinen in der Luft hängen,
am Kopf stehen undsoweiter. Sie sagte, sie wünsche sich, dass Lilo ein hübsches, tüchtiges Mädchen werde. / Das Kind schlief von sieben Uhr abends bis morgens um fünf oder sechs. Tagsüber spielte es mit seinen Händen oder Füßen, erzählte ihnen Dinge, die sonst niemand verstand. Sehr gerne bekam das Kind Besuch. Wenn verschickte Mädchen Tomaten holten und sich zehn Minuten mit dem Kind abgaben, konnte es sein Glück gar nicht fassen. Die Leute erkundigten sich, ob das Kind Zahnweh habe. Aber das waren nur die
dicken Wangen. / Am liebsten aß es Spinat und Griespapp.
Einmal fragte ich die Darmstädterin, was sie an mir möge. Zuerst sagte sie einige naheliegende Dinge und schließlich sagte sie, ich gäbe ihr das Gefühl, dass ich sie gerne in meiner Nähe hätte. Sie habe nie den Eindruck, dass ich mich durch
sie gestört fühle. - Und das stimmte. / Sie sagte, alle Fraue mögen das. Aber umgekehrt, Männern bedeute das wohl nicht sehr viel. "Mir bedeutet es sehr wohl viel", widersprach ich. Und etwas Helles fuhr über ihr Gesicht. / Sie sagte,
sie sei überrascht, dass es das gebe. Bei ihr zu Hause gehe es immer sehr laut zu, und jeder sei froh, wenn er mal allein sein könne. Gemeinschaft habe sie immer als Unding erfahren. / Ich sagte, in Wien im Kunsthistorischen Museum hänge ein großer Breughel, Die Bauernhochzeit. Das Hochzeitsmahl finde in einer Scheune statt, einem Ort der Arbeit, das gefalle mir. Alle Menschen sollten an Orten der Arbeit heiraten.
Wir standen im Gewächshaus und sahen uns an. Und dann, tock, tock, tock, setzte ein kurzer Regenschauer ein, in dicken Tropfen. Für die nächsten Minuten klang es unter dem Glasdach, als schüttle jemand seine Sparbüchse. / Wir setzten uns nach hinten auf die Werkzeugkiste, wo das Kind am Boden lag und seine Hände betrachtete, und wir tranken ein Bier, und die Darmstädterin sagte: "Ich bin gerne mit dir zusammen." / Ich brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, was sie grad gesagt hatte. Dann sagte ich: "Es geht mir auch so." Und ohne dass wir einander bis dahin je außerhalb der Arbeit berührt hatten, waren wir zu diesem Zeitpunkt wohl schon ein, zwei Wochen ein Paar. Und wenn ich nicht so aufgeregt und nervös gewesen wäre, hätte ich den Moment, als wir es
uns eingestanden, sehr genossen.
Am nächsten Tag beschlossen wir, uns einen freien Tag zu gönnen. Mit dem Kind auf dem Rücken machten wir einen Spaziergang am See und tranken in St. Lorenz zwei Achtel Wein und verzehrten gemeinsam einen Kuchen. So waren
wir in guter Stimmung, als wir aufbrachen. Das Kind war vergnügt, weil es permanent herumgetragen wurde. Und vor dem Wirtshaus küsste mich die Darmstädterin, es war der erste Kuss. Und Arm in Arm gingen wir weiter. Und später küsste sie mich nochmals, diesmal sehr innig.

Arno Schmidt
Leviathan
oder Die Beste der Welten
19f
Wenig geschlafen; aber alles mögliche gedacht. Cooper fiel mir ein (also auch der „Hochwald“).“- es liegt etwas Fremdes und Abwehrendes in Schmuck und Feierkleid der Frauen -„; ich drehte mich auf die rechte Seite, ich sagte nachtwindleise in ein Ohr: viele Erinnerungen. Sonne, Wind. Die gelben Abende, auf der Flußscheibe entstand Schwatzen und Gelächter. Syringen im Regen. Knaben knieten schreiend am grünlichen Teich. Die Nacht begann im Weidengewölb hinter den Zweigen. Sie atmete gleichmäßig und kummerlos; im Schlaf. Warum auch nicht. War nicht alles wie eine Erzählung geworden? Und hatten auf den Fliederblättern nicht auch damals tödlich fette Raupen gelümmelt; und die blökenden Buben hatten das stille Wasser gepeitscht, bis es zischte? War nicht meine Seele damals gequält gewesen, und das Dasein etwas, das besser nicht wäre? Wenn ich nur hätte schlafen können. Sehr schuldig war auch Nietzsche, der Machtverhimmler; er hat eigentlich die Nazi-Tricks gelehrt („Du sollst den Krieg mehr lieben als den Frieden…“), der maulfertige Schuft; er ist der Vater jener Breker’schen Berufssoldaten, die, wenn man ihnen Felsblock und Keule nimmt, verhungern müssen, weil sie „halt nichts weiter gelernt haben“. Der und Plato waren große Schädlinge (und Ignoranten nebenbei: siehe Naturwissenschaften). Oh, des Morgen- und Nachmittagsgoldes im Aristipp. Und der Bart fing an zu stacheln; Wärme schien es zu bringen, wenn man ruckartig alle Muskeln im Körper gewaltsam spannte, so lange man konnte; die Durchblutung begann dann, aber es war verdammt anstrengend. Gähnen. Die Dreiviertelnacht war voller Gestank; ein Schnaps wäre das Richtige gewesen, elender Fusel meinetwegen, aber hochgiftig. Oder wurde es schon morgengrau?

Arnold Stadler
New York machen wir das nächste Mal
12f
…
Seine große Schwester hat Roland einst, als es noch Nacht wurde und Wunder gab, als noch der Himmel zu sehen war und mit ihm die Sterne, alles auf einmal gezeigt, und er staunte und seine Schwester entlockte ihm ein großes „AAAAAAAA! – Das ist der Himmel!“. Sagte sie ihm. Und er glaubte ihr. Freilich war es auch nur ein Kinderglaube. Aber der stand nicht zur Disposition, so wenig wie die Kinderträume.
„Das Schönste auf der ganzen Welt!“ sagte sie, wie Kinder sagen, ein Leben lang.
Roland sah sie noch mit diesem Satz dastehen und hört noch das Ausrufungszeichen hinter „auf der ganzen Welt“. Auf alles, was er sie fragte, bekam er eine Antwort von ihnen, seinen Anfangsmenschen. Dann starben die Ersten. Auf alles hatten sie eine Antwort gehabt. Aber wenn er nun am Telefon fragte: „Was machst du heute Abend?“ sagten sie: „Gulasch!“
Wie sie ihm voraus war und ihrem kleinen Bruder den offenen Himmel zeigte! Unter dem sie nebeneinanderstanden. Hand in Hand. Und vielleicht war das sogar das alles ermöglichende Wunder, auf das alle anderen folgten. Sie und ihn mit seinen kleinen großen Augen in ihrem großen kleinen Hof. Über diese Augen, mit denen sie als Kinder noch den Himmel berührten, waren sie mit der ganzen Welt verbunden, mit allem verbunden, was sie sahen und hätten sehen können, mit allem, was es gab, ob sie es sahen oder nicht. So standen sie im Weltraum, auf dem Nachbargrundstück der Milchstraße. Gleich nebenan die Milchstraße, das konnten sie sehen. Die Augen in ihnen und die Sterne über ihnen und sich. Dazwischen nichts. Seine Schwester und er, nebeneinander in diesem Hof. Und dann erst wieder die Sterne. Nachdem sie eine Weile geschaut hatten, gingen sie schlafen. Die Welt war noch vollständig: Großeltern und Schutzengel. Alles noch da. „Und nachts kreuzten sich Milchstraße und Dorfstraße auf dem Nachhauseweg.“ So war es.
208ff
…
Am anderen Morgen – es musste ein Donnerstagmorgen gewesen sein, denn am Freitag wurde in der katholischen Welt aus bekanntem Grunde nicht geschlachtet, fand er plötzlich wieder einmal alles schön. Auch das Gegenteil davon. Vielleicht war es auch nur der Restalkohol. Solche Morgen gab es auch.
Als er zum Fenster hinausschaute, landete er zwangsläufig bei den Gores, diesen Nachbarn, und konnte sehen, wie Hermine das Blut rührte. Wie sie mit der Arbeit schon fast fertig waren. Das Schwein hing schon ausgenommen in zwei Hälften von der Leiter, fast schon ein Stillleben eines alten Meisters.
Auch sie, die Gores, gehörten zu seinem Leben. Vor bald zwanzig Jahren war er täglich durch jene Tür gegangen, ihre Haustür, die eher einer Stalltür glich. Zu diesen Nachbarn hatten seine ersten Reisen in die Welt geführt.
Nebenan, einst, als dieses Wort noch Sinn hatte und darauf deutete, dass es eine Mitte gab, gegeben haben muss, lebten sie, diese Nachbarn.
Die Stiftung Warentest hätte sie auch als Familie nicht durchgehen lassen.
Und ihn vielleicht auch nicht, in seiner nur aus Nebenzimmern bestehenden Wohnung.
Vom Schlafzimmer aus konnte er ihnen auf den Wurstkessel sehen, dem Leben ins Gesicht,
Sie lebten hauptsächlich vom Fleisch von Tieren, die sie selbst schlachteten, und was von ihnen übrigblieb, landete wieder im Trog ihrer noch nicht geschlachteten und verspeisten Angehörigen und so fort. Die Gores aßen nur am Freitag kein Fleisch, und Freitag war auch kein Schlachttag, da hatten die Tiere frei.
Hermine bemerkte bald, wie er zum Fenster herausschaute und sie beobachtete, wie sie ihrem Handwerk nachgingen.
Der Amerikaner, Jim aus Miami, war dagegen schon eine Stunde zuvor von einem irrsinnigen Quieken aufgewacht – und war »zu Tode« erschrocken, als er von seinem Zimmer aus Leute mit Händen und Beinen und Köpfen an derselben Stelle dabei entdeckte, wie sie dabei waren, ein bis dahin niemals im Freien gewesenes Lebewesen, das auch aus den fünf Sinnen bestand und alles hatte, und auch noch in etwa an der gleichen Stelle!!!! … an seinen Ohren und seinem Schwanz aus dem Stall herauszuziehen, um es zu töten, abzuschaben, aufzuhängen, aufzuschneiden, auslaufen zu lassen und so weiter.
Es handelte sich bei den Hauptakteuren um Hermine und Karl Rudolph und seinen ebenso unterbelichteten Stall- und Schlachtgehilfen Theodor, der eher das Gegenteil von dem war, was sein Name besagte, Theodor – eher pain in the neck als Gottesgeschenk. Und seine Frau Viktoria, genannt Viktor, stand auch noch dabei und wartete darauf, das Blut zu rühren.
Von diesem Geschrei, das er nie gehört hatte, war Jim erwacht.
Wenige Augenblicke später sah er, wie sie dabei waren, das Tier auf einen Trog zu binden, es gemeinsam zu fesseln, wobei die Frauen nun assistierten, zwei der Männer ihre Kraft spielen ließen, und Theo hatte nun zwei Taschenlampen in der Hand zum Leuchten. Es war wie eine Hinrichtung im Morgengrauen. – Das Lebewesen, das nun ins Jenseits befördert werden sollte, und dann verwurstet und so fort, hatte vier Beine, das war vielleicht der einzige kapitale Unterschied zu den anderen, die zweibeinig sich an die Arbeit machten. Zwei Männer und zwei Frauen, zählte Jim. Und dann entdeckte er auch noch Zuschauer: Die beiden Alten, wie Hermine ihre Schwiegereltern nannte, lebten damals noch und hatten immer noch nicht genug. Wilhelm und Fine verfolgten das Leben und wie diesem Lebewesen der Garaus gemacht wurde mit einer alten Freude, als wären sie immer noch Kinder.
Jim sah, wie sie es schließlich schafften, das Lebewesen zu bändigen, und wie es dann, noch am Leben, plötzlich totenstill war. In Miami gab es so etwas nicht. Das gab es dort gewiss auch, nur noch viel schlimmer, und es gab keinen einzigen TV-Kanal, der dies gezeigt hätte. Hier war es live. Das Leben.
Sie hatten die Morgenläut-Glocken von Lebensweiler abgewartet, die den Schuss übertönen sollten. Und dann begann es zu läuten: zum Morgengebet, genauso lange, wie fünf Vaterunser und fünf Ave Maria dauerten. Seit Jahrhunderten läuteten sie so um halb sechs, für alle, die ihr Leben um diesen Turm herum führten und geführt hatten und denen sie wohl als eine Art Wecker dienten. Aber der wäre gar nicht nötig gewesen.
Erst lag das Lebewesen mit den zwei Augen festgebunden und totenstill in Erwartung des Endes. Doch als es mit eigenen Augen sah, wie Karl Rudolph, als die Glocken zu lauten begannen, dabei war, den Bolzenschussapparat zu holen, fing es wie am Spieß zu schreien an, wie ein um sein Leben schreiender Todgeweihter, der keine Beruhigungsspritze bekommen hat, bei der Hinrichtung. Zwischen Huntsville Texas und Isfahan, Mekka und Schanghai.
Die Glocken gaben dem Tag und dem Leben eine Struktur, hier, im Hinterland von Schwäbisch Mesopotamien von einst.
Dieses Morgengeläut übertönte dann den Schuss doch nicht ganz, der immer noch deutlich zu vernehmen war, diese Glocken hatten in alles hineingeläutet. Und besonders auch die Kinder, die anfangs noch mit Opa und Oma herumstanden, schauten erwartungsvoll zu und zuckten vor Freude zusammen und bekamen vielleicht zum ersten Mal eine Gänsehaut, als wäre dies eine Vorstufe späterer Orgasmen gewesen, als sie in die Glocken hinein den Schuss hörten.
Bald liefen sie mit der blutverschmierten Schweineblase davon, einem der Kinderspielzeuge, das Karl Rudolph für sie aufgeblasen hatte, und schlugen damit einander auf den Kopf. Es war ein kurzes Vergnügen, Kinder! – Hermine und Karl Rudolph hatten fünf davon gemacht, wie es hieß. Als verwechselte sich der Mensch mit dem Schöpfer. Auch der einfachste Mesopotamier und nicht nur die großen Experten, virtuosen Humangenetiker und Herren von der pränatalen Diagnostik.
Die älteren zwei waren schon aus dem Haus, während die drei Jüngeren sich noch um die Schweineblase stritten, bis der Förderschulbus kam, und schmierten sich mit Blut aus der Wanne voll und nahmen die Schweineblase erst wieder am Schmutzigen Donnerstag heraus und hauten damit allen, denen sie an diesem Tag begegneten, auf den Kopf.
Jim würde dieses Bild dann mit nach Amerika nehmen und wahrscheinlich in Miami erzählen, wie sie ganz konzentriert und formvollendet nach der richtigen Stelle am Hals Ausschau gehalten, abgesucht und dann den Schnitt gesetzt hatten und wie nach einer Generalpause mit aller Gewalt, wie eine Fontäne, das Blut herausgebrochen war.
Gewiss, wie es in Huntsville zuging, am Morgen der Hinrichtung, wie in aller Herrgottsfrühe geweckt wurde, davon wollte er erst gar nichts wissen. Das war eine andere Geschichte, wenn auch nicht ganz; und wie immer war es auch hier: Die eine hing mit der anderen zusammen, alle Geschichten hingen irgendwie zusammen, wenn der gewöhnliche Mensch auch am Wort »irgendwie« scheiterte und niemals den sogenannten Durchblick haben würde, er aber würde dann tot sein, und unter den schönsten Vorrechten des Schriftstellers war dies vielleicht das entscheidende: dass er Äpfel mit Birnen vergleichen konnte, ja musste ein Augenleben lang.
Viktoria und Hermine hatten den Blutschüsseldienst übernommen, eine Wanne, die das Jahr über auch zum Wäscheaufhängen benutzt wurde, ganz an den Hals gedrückt und das Blut aufgefangen und wild zu rühren begonnen und das nötige Gewürz hineingemischt … und alles so geschickt, dass das Hermännle einen Tag später sagen würde, er könne sich ein Leben ohne diese Würste nicht mehr vorstellen, ja, er wolle nicht mehr leben, wenn ihm »diese Mexede« (hochdeutsch: Schlachtplatte) eines Tages nicht mehr gebracht werden sollte.
Innerhalb kürzester Zeit war alles aufgeschnitten und herausgenommen, der Rest hing in zwei Teilen an einer Leiter von der Wand herunter, rechts neben der Tür am Stall, durch die dieses Tier mit seinen Augen ein erstes und letztes Mal herausgekommen war. Immerhin, welch ein Auftritt, zu vergleichen mit dem Stier in der Arena, dessen Sterben und Tod ja geradezu ein königliches Requiem war, verglichen mit seinen Verwandten, die in den Schlachthöfen landeten, ganz zu schweigen von den 350 Millionen Hühnerleben, die jedes Jahr in diesem Land vollautomatisiert verarbeitet wurden, erst zu Lebensmitteln, dann zu …
Und, auf dieses arme Schwein bezogen: Seine Geschwister hatten nicht dieses privilegierte Schicksal, zu Hause sterben zu dürfen, derart im Mittelpunkt eines Festes, wie ein stolzer spanischer Stier – und dann von den eigenen Leuten gegessen zu werden, und dass ihre Augen zuletzt Leckerbissen wären, und den Rest von allem bekamen dann geraume Zeit später diese Geschwister selbst von Hermine in den Trog geschüttet. Nein, es war schon etwas Besonderes. Die anderen landeten in der Schlachtfabrik, und ganze Familien wurden dort für immer auseinandergerissen und landeten zuletzt in irgendwelchen Klein- oder Großstadtmägen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, durch den Fleischwolf, und vorher noch bei Aldi oder beim ersten Metzger am Platz, in der Gourmetabteilung.
Und dem Verbraucher als Genießer war es egal, wie sich dieses Leben mit Augen und Ohren und Mund etwa an derselben Stelle einst zusammengesetzt hatte.
Der Gemüsegarten war auch stillgelegt, seitdem es die Tiefkühltruhenkultur gab und der Eismann einmal in der Woche seine Ware ins Haus lieferte.

Benjamin Meyers
Offene See
87ff
Wieder aßen wir im Garten.
Dulcie brachte ein Tablett mit zwei Stück Käse, einigen dampfenden, frisch gebackenen Brötchen, einer Kugel Butter, gekochten Eiern, noch mehr Äpfeln, einer halben Gurke, einem Steinkrug mit eingelegten Zwiebeln und einem weiteren mit Wellhornschnecken. Wieder gab es eine Kanne Brennnesseltee und Tassen, in denen je eine Zitronenscheibe lag. Ich war dankbar für den leichten Wind, der mir die verschwitzte Stirn trocknete.
Hungrig nahm ich ein Brötchen und belegte es mit Ei, Apfel und Meeresfrüchten.
»Eine fantasievolle Zusammenstellung«, sagte Dulcie. »Wie weit bist du mit dem Urwald?«
Ich kaute einige Male und schluckte, ehe ich antwortete. »Der ist unglaublich dicht. Ich wollte schon viel mehr geschaffthaben.«
»Ich habe dich gewarnt«
»Es wird doch ein bisschen länger dauern, als ich dachte.«
»Lass gut sein«, sagte sie. »Der nächste Winter dünnt ihn sowieso aus. Der Frost tut sein Übriges. Das Leben ist kurz, warum es mit Plackerei vertun?«
»Aber es macht mir richtig Spaß. Ich hab mir gedacht, ich bringe das am Zaun zu Ende und schneide dann noch rasch die Büsche unten auf der Wiese zurück, damit Sie das Meer wieder sehen können.«
Dulcie nahm einen Apfel und schnitt eine Scheibe da. von ab.
»Warum sollte ich das wollen?«
»Ich dachte bloß. Weil -«
»Weil, wie Mallory antwortete, als man ihn nach dem Grund fragte, warum er den Everest besteigen wollte, er da ist. Aber das ist nicht nötig. Ich weiß, dass es da ist. Die Ebbe zieht es dreißig Meter zurück, und die Flut schiebt es wieder dreißig Meter vor. Tag für Tag. Ich muss das nicht sehen, um es zu glauben.«
»Aber fänden Sie es denn nicht schön, die ganze Aussicht zu genießen?«
Sie runzelte die Stirn. »Nicht besonders. Ich habe nicht mehr viel für das Meer übrig.«
»Aber Sie leben ganz in seiner Nähe.«
»Sagen wir einfach, wir hatten ein Zerwürfnis, und belassen es dabei.«
Dulcie kaute die nächste knackige Apfelscheibe.
»Aber wie kann man sich denn mit dem Meer überwerfen?«
»Weil man das nun mal kann«, sagte sie etwas schärfer; als ich erwartet hatte.
Wir verstummten.
»Ich hab gesehen, dass der Wasserhahn in der Küche tropft«, sagte ich. » Wahrscheinlich ist der Dichtungsring kaputt.«
»Ja«, sagte Dulcie zerstreut. »Das wird es sein.«
»Ich könnte einen neuen für Sie einsetzen.«
Sie überging meinen gezielten Versuch, das Gespräch in eine neue Richtung zu lenken. Sie hatte anderes im Kopf. .
»Hör mal, Robert, ich bin nicht bereit, mich den wechselhaften Launen des Meeres auszuliefern. Das ist alles. Ich tu's einfach nicht. Das Meer ist unberechenbar und stürmisch, und ich habe keine Geduld für seine täglichen Dramen. Und manchmal - eigentlich die meiste Zeit - ist es einfach bloß langweilig. Dieselbe öde Geschichte, die wieder und wieder erzählt wird. Es schmeckt nach dem Unrat der Erde. Es interessiert mich nicht.«

Bodo Kirchoff
Bericht zur Lage des Glücks
82f
Der Morgen an dem halbleeren See, genauer die frühmorgendliche Luft dort, hatte etwas Warmfauliges, das von dem freiliegenden Grund kam, darin eingemischt der Geruch nach feuchtem Fell, dem der Schafe, die nachts im Gras gelegen hatten und jetzt nur wenige Schritte entfernt in seltsamer Erstarrung standen, jedes mit gesenktem Kopf halb unter dem Bauch des nächsten. Es war ein Anblick, wie man ihn jemandem erzählt, der etwas für Tiere übrighat, und natürlich dachte ich an Lydia - Lydia, stell dir vor, da waren morgens diese Schafe, jedes mit dem Kopf halb unter dem anderen. Sie schliefen im Stehen, während wir es nicht einmal im Bett liegend geschafft haben, uns so zu vergessen, dass wir zu Schafen wurden - es gibt kein Glück ohne Selbstvergessenheit, meine ich, und vielleicht sind wir auch daran gescheitert, dass wir nie aufgehört haben zu denken, ja vorauszudenken, wo und wann wir auf welche Art glücklich sein könnten, und wenn es dann so weit oder fast so weit war, haben wir schon wieder Glückspläne geschmiedet. Aber glückliche Paare denken nicht voraus, sie denken meist gar nicht, wozu auch.
Die Afrikanerin - vor mir auf den Beinen, am Wasser in dem alten Männertrainingszeug aus verschiedenen Teilen, in dem sie geschlafen hatte, die Hose bis über die Knie gekrempelt - war schon mit dem Abbruch des Lagers fertig, als die Schafe immer noch regungslos dastanden; erst als ich im Wagen saß und den Motor anließ, fanden sie aus ihrer Starre, als käme in eine Tierskulptur auf einmal Leben. Es waren elf Schafe, und sie erschienen mir in ihrem Zu-sich-Kommen wie neugeboren - oder war ich das, der sich an dem Morgen so gefühlt hatte, vielleicht nicht als neuer Mensch, aber als anderer, einer, der aufgestört ist von sich selbst, nicht mehr weiß, wie es weiter geht, wo er mit sich hinsoll. Ich erinnere mich an einen von keiner Silbe, keiner Geste, von nichts gelenktem Start in den Tag, von Sein und Schweigen als ein und demselben, wenn man so will, und das ist so geblieben, bis wir auf der Straße waren und an einem Ausläufer des Sees entlangfuhren mit mehr Sandinseln als Wasser, da fragte ich, halb nach rechts gewandt, ob es nicht falsch sei, den alten rotweißen Trainingsanzug zu tragen, der ja in Verbindung mit ihrer Person erwähnt werde, wir hätten doch neue Sachen gekauft, und sie sagte, im Übrigen wieder meine Romkappe auf dem Kopf, die Sachen wollte sie lieber schonen, auf dem nächsten Markt finde sich bestimmt etwas anderes, Einfacheres.

Botho Strauss
Herkunft
92
Mit den Jahren legte ich unzählige Scherben eines imaginären, jedoch erschließbaren Gefäßes vor. Dies Dahinziehen in Motiven und die fortschrittlose Bewegung in kurzen Sprüngen vor und zurück, dies lange, lange Würfelspiel, bei dem ich immer noch auf die magische Unbekannte unter allen Augenzahlen zu hoffen scheine, lassen insgesamt auf ein Leben von geringer Tatkraft und großer Saumseligkeit schließen. Der Saum, ja, es war der schmale Lein- oder Treidelpfad, der zuerst an der Lahn und später am Fluß der Ereignisse entlangführte. Stetig und wachsam ihm zu folgen war mein Fleiß. Dabei bin ich meiner Dummheit, meiner Sentimentalität in so reiner Ausprägung begegnet, wie ich sie anderen Mensch immer zu verbergen suchte. Ich habe mich unterwegs befunden, immer nur auf dem Leinpfad neben dem Fluß, und habe mich sonst nirgends ausreichend ausgekannt. Nur auf dem festgelegten Weg, von dem man nicht abirren, nicht abzweigen kann, immer am Fluß entlang, öffnete sich in mir bei jedem Schritt eine »gesellschaftliche« Hülle, ein Trug nach dem anderen fiel ab, bis hin zu den innersten klebrigsten Hüllblättern des frischen Selbstbetrugs. Bei gutem Wetter und schnellem Fortkommen öffnete ich mich vollständig wie eine Pfingstrose im Mailicht.
Dennoch will es mir scheinen, als hätte ich aus tausend Veränderungen, Umstürzen und Digressionen nichts anderes als die Spur der Nachfolge bloßgelegt, das Relief einer Wiederholung, die Oberfläche einer tiefen Prägung gereinigt und geputzt.
So betrachtet, den Leinpfad entlang, habe ich den Verführungen des Lebens mit allen Kräften des Nachlebens widerstanden. Verschlossen wie Emily Dickinson‚ wie Kierkegaard bleibend daheim, um dem Ahnen ein Nachleben zu sein. Dieselben Stunden am Tisch, die regelmäßigen Mahlzeiten, die Spaziergänge zur Erfrischung. Das Schreiben von Theaterstücken wäre demnach nur ein Karneval gewesen, um die Geister der Gegenwart aus dem Haus zu treiben.

Bruce Chatwin
Traumpfade
184
...
Als ich die Geschichte zu Ende erzählt hatte, erhob sich Arkady ohne Kommentar und sagte: "Wir machen uns besser auf den Weg." Wir vergruben die Abfälle und gingen zum Wagen zurück.
"Sie mögen es lächerlich finden", sagte ich, um eine Reaktion von ihm zu bekommen. "Aber ich lebe mit dem Lächeln jener alten Frau."
Das Lächeln, sagte ich, sei wie eine Botschaft aus dem Goldenen Zeitalter. Es habe mich gelehrt, alle Argumente, die für die Schlechtigkeit der menschlichen Natur sprächen, unverzüglich zurückzuweisen. Der Gedanke, zu einer "ursprünglichen Einfachheit" zurückzukehren, sei nicht naiv oder unwissenschaftlich oder realitätsfremd.
"Verzicht", sagte ich, "selbst zu einem so späten Zeitpunkt, ist eine Möglichkeit."
"Da stimme ich zu", sagte Arkady. "Wenn die Welt noch eine Zukunft hat, dann ist es eine asketische Zukunft."

Cees Noteboom
Allerseelen
35
Er ging in Richtung Schillerstraße. Es gab nur zwei Städte, die einen so zum Laufen herausfordeten, Paris und Berlin. Das stimmte natürlich auch wieder nicht, er war sein ganzes Leben lang überall viel zu Fuß gegangen, doch hier war es anders. Er fragte sich, ob das durch den Bruch kam, der durch beide Städte verlief, wodurch das Zufußgehen den Charakter einer Reise, einer Pilgerfahrt bekam. Bei der Seine wurde dieser Bruch durch Brücken gemildert, und dennoch wußte man immer, daß man irgendwo anders hinging, daß eine Grenze überschritten wurde, so daß man, wie so viele Pariser, auf seiner Seite des Flusses blieb, wenn keine Notwendigkeit bestand, das eigene Territorium zu verlassen. In Berlin war das anders. Diese Stadt hatte einmal einen Schlaganfall erlitten, und die Folgen waren noch immer sichtbar. Wer von der einen Seite in die andere ging, durchquerte einen merkwürdigen Riktus, eine Narbe, die noch lange zu sehen sein würde. Hier war das trennende Element nicht das Wasser, sondern jene unvollständige Form der Geschichte, die Politik genannt wird, wenn die Farbe noch nicht ganz trocken ist. Wer dafür empfänglich war, konnte den Bruch fast körperlich spüren.

Christa Wolf
Ein Tag im Jahr
1960 – 2000
252f
Donnerstag, 27. September 1979
Meteln
…
Du kennst, sagt er, Zustände von Erleichterung und Nichterleichterung. – Ich sage: Ja. Vorgestern, als ich von der Amnestie hörte, diese ungeheure Erleichterung. Da spürte ich erst das Bleigewicht, das mir sonst auf den Schultern liegt. – Aber du kannst doch nicht, sagt er, mit jedem mitleiden, der im Gefängnis ist. Das hast du doch früher auch nicht getan. – Nein. Ich verstehe es auch nicht mehr, daß ich früher damit leben konnte. Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten. Aber das wäre natürlich woanders genau so. – Nicht ganz, sagt er. Woanders würde es dich nichts angehen. – Also eine Selbsttäuschung. – Ja. Aber woher eigentlich diese unauflösbare Identifizierung mit diesem Land. Warum wird man die nie los. – Ich sage, wenn Sie es hätten loswerden können, wären Sarah Kirsch und Günter Kunert nicht gegangen. Das ist es eigentlich, wovor sie fliehen mussten. Und ich werde mich immer an den Augenblick erinnern – es war nach der Biermann-Ausbürgerung, es war in Ungarn, im Bus von Hevis zum Flughafen, als ich mir versprach: Wenn ich mich frei machen und weiter schreiben kann, ganz unabhängig, kann ich hier bleiben; wenn nicht, muß ich gehen.
Wir wissen das alles, haben es hundertmal beredet. Während wir darüber sprechen, kommt es mir vor, als würde sich die Verkrampfung lösen, als werde ich, in dem ich Persönliches zur Sprache bringe, auch dieses Bettine-Nachwort doch zustande bringen, nicht nur als kalte Fleißarbeit. (Jetzt, während ich an der Maschine sitze, die ich auf dem technischen Tischchen, gegen den grauen Fenstervorhang, morgens immer als ersten Gegenstand sehe, jetzt ist diese trockene Müdigkeit hinter den Augen schon wieder da, und es ist ein Glück, daß ich heute dieses hier zu schreiben habe. Es ist schon zehn Uhr fünfzehn.) G. sagt, er kenne solche Lähmungszustände ja auch, er hüte sich nur, sie sich als Depression bewußt zu machen. Er könne dann wochenlang so gut wie nichts tun, nur die Tage verplempern. – Das wär’s, was ich jetzt auch möchte, sage ich. Aber davor habe ich noch mehr Angst als vor der mühseligen Arbeit, zu der ich mich stundenweis zwinge.
Es ist ein grauer Tag, milder als die vorangegangenen, jetzt kommt Wind auf. Den ganzen Sommer über sah ich den Apfelbaum vor dem Arbeitsfenster sehr nah, von der üppigen Blüte bis jetzt, wo er voller großer, grünroter Äpfel hängt. Ich habe so etwas früher nie erlebt, die Natur im Jahreskreis. Es ist ein wirklicher Reichtum, etwas Neues. Ein Glück. Ich denke, daß eben dieses Zusammenliegen und ruhige Miteinander-Reden Glück ist, eine innige Stunde, die ich in mich aufnehmen und bewahren will. Was will ich denn noch? Oft zähle ich mir alles auf, was dazu beiträgt, daß es mir außerordentlich gut geht. Ich sage es Gerd und denke, ich muß es schaffen, mich so gut zu fühlen, wie es mir geht. (Wieder etwas, was ich »schaffen« will…)
…

Christoph Ransmayr
Atlas eines ängstlichen Mannes
S. 153ff
Im Weltraum
Ich sah eine samtschwarze, von unzähligen Lichtpunkten tätowierte Finsternis über mir, ein scheinbar grenzenloses, bis an die fernsten Abgründe des Alls ausgespanntes Firmament, während ich auf dem flachen Boden eines Kahns lag, der unter den Ruderschlägen eines Fährmanns aus dem Volk der Maori durch die Nacht glitt.
Das verzweigte, von Wasseradern durchflutete Höhlensystem, durch das mich der Fährmann ruderte und stakte, führte vom Ufer des Lake Te Anau auf der Südinsel Neuseelands tiefer ins Innere der Murchison Mountains. Daß dort draußen, an einem von Eisrinden klirrenden Seeufer, ein Augusttag zu Ende ging, ein stürmischer Wintertag, der auf den Pässen Neuschnee gebracht hatte, war hier, im Inneren des Gebirges, ohne Bedeutung. Hier herrschten durch alle Jahreszeiten hindurch gleichbleibende Temperatur und eine Windstille Finsternis, in der trotz aller Sternwolken, galaktischen Nebel und Kugelsternhaufen über meinem Kopf weder der Fährmann noch sein Ruder oder auch nur die eigene Hand vor den Augen zu sehen war. Das Abbild des Nachthimmels an den Höhlendecken, das sich im glatten Wasser spiegelte, bis der Fährmann den Spiegel Ruderschlag für Ruderschlag zertrümmerte, wurde von den Larven eines Zweiflüglers aus der Familie der Pilzmücken in die undurchdringliche Schwärze gestochen. von zwei bis drei Zentimeter langen leuchtenden Würmchen, die mit ihrem bläulichen Schein Eintags- und Köcherfliegen, Nachtfalter oder verirrte Motten in einen Vorhang aus hauchzarten, klebrigen Fangschnüren aus Seide lockten, an denen sie dann die aus der Finsternis gefischte Beute in ihre Nester hochzogen und fraßen. Völlige Windstille war eine Grundbedingung dieser Jagd, die deshalb am erfolgreichsten in Höhlen betrieben wurde, denn beim leisesten Hauch mußten sich die sechzig und siebzig Fangschnüre, die von jedem Seidennest herabhingen, so unlösbar ineinander verstricken wie die Angelschnüre chaotischer Fischer.
Stille und Windstille waren hier unten so vollkommen, daß ich das Klingen des Blutes in meinem Kopf hörte. Daß der Fährmann mich außerhalb der auf einer großen Tafel an der Anlegestelle am Seeufer plakatierten Besichtigungszeiten ins Innere des Gebirges ruderte, war ein Privileg, das ich einem Farmer verdankte, der mich für zwei Nächte in einem der drei Zimmer mit Frühstück seines Hofes beherbergte.
Schon bei der Einfahrt in die Höhle hatte mir der an Händen und Hals und über das ganze Gesicht mit den Ornamenten seines Stammes tätowierte Maori bedeutet, mich auf den Rücken zu legen. Ich könne so den Sternenhimmel über rnir wie auf einem in sanften Brisen dahinsegelnden, fliegenden Teppich bestaunen. Aber kaum auf dem Boden des Kahns ausgestreckt und in einem Gefühl der Geborgenheit ähnlich dem in einer Wiege, spürte ich auch, wie müde ich war. Ich hatte einen langen Tag auf winterlichen Straßen, vor allem einer Paßstraße, hinter mir, auf der ich von Wanaka nach Queenstown über den Crown Range Summit, den höchsten, auf einer Straße überquerbaren Paß Neuseelands, gefahren und dabei fast einen Steilhang hinabgestürzt war: Nachdem es kurz vor der Paßhöhe in dichten Flocken zu schneien begonnen hatte, war mein für winterliche Verhältnisse nicht ausgerüsteter Mietwagen auf einem bereits schneeverwehten Anstieg mit durchdrehenden Rädern plötzlich rückwärts, rückwärts! und langsam gegen den Straßenrand und einen felsigen Abhang gerutscht. Der Hang war so steil, daß mein Wagen sich bis hinab zu einem Bergbach, der tief unten schwarz und lautlos talauswärts lief, wieder und wieder überschlagen mußte. Natürlich stand in einem Vertrag, der zusammengefaltet im Handschuhfach lag, daß ich Paßstraßen zu dieser Jahreszeit unter allen Umständen zu meiden hätte und jede Versicherungsleistung verlieren würde, wenn ich gegen diese Bestimmung verstieß. Aber auf einer Route, die nicht über den Crown Range Summit, sondern um das Gebirge herumführte, hätte ich mein Ziel, den Lake Te Anau und seine Höhlen, wohl nicht mehr bei Tageslicht erreicht. Dazu war der Tag zwar stürmisch, aber noch nahezu wolkenlos gewesen, als ich mich für die Fahrt durch das Gebirge entschieden hatte. Ich machte mich bereit, aus dem Wagen zu springen, um mein, wie ich empfand, dramatisch gefahrdetes Leben um den Preis eines unbesetzt in einen Bergbach krachenden Mietwagens von meinem Schicksal zurückzukaufen, als der Wagen dicht vor dem Abgrund zum Stillstand kam:
Die Erinnerung an diese Augenblicke einer hilflosen Drift ließen mir meine Lage auf den Bodenplanken des Kahns so umsorgt und glückhaft erscheinen, daß ich in einem schläfrigen Gefühl des Behütetseins beinahe hinübergeglitten wäre in einen Traum, der mit Sternen zu tun hatte. Vier Bergwanderer‚ die mich auf ihrer Rückreise von einer langen Tour in meiner Schwebe zwischen Totalschaden und Lebensgefahr am Straßenrand entdeckt, dann in ihrem mit Schneeketten gerüsteten Jeep über die Paßhöhe geschleppt und noch bis unter die Schneefallgrenze begleitet hatten, erschienen mir am Rand dieses Traumes als Schutzgeister, wie sie sich nur im Land der Maori um die Ängstlichen und Gefahrdeten annahmen. Vielleicht war ja auch mein tätowierter Fährmann ein solcher Geist. Er kannte das Höhlenlabyrinth so gut, daß er den Kahn ohne Lampe durch die Finsternis fuhrte und sein Ruder wie einen Blindenstock. Wir glitten, schaukelten unter glimmenden Galaxien dahin. Manche dieser Sterne, sagte er, würden heller leuchten als andere, das seien die hungrigen Larven, ihr Licht mußte ja wohl das betörendste sein, andere glow worms wiederum, die gerade Beute gemacht und gefressen hatten, schimmerten blasser‚ und wieder andere, die dabei waren, sich zu verpuppen, und signalisieren wollten, daß sie bald zur Fortpflanzung bereit waren, leuchteten auf, erloschen, leuchtete“ erneut, blinkten. Es sei hier in der Tiefe also nicht anders als am Himmel draußen in der Nacht, über dem Lake Te Anau und den schneebedeckten Gipfeln, auch dort draußen gab es Sterne, die ihre Leuchtkraft periodisch veränderten, gab es lichtstarke und lichtschwache Sonnen, Dunkelwolken, schwarze Löcher. Und tatsächlich behaupteten ja Insektenforscher, sagte der Fährmann, daß die phosphoreszierenden Larven dieser Pilzmücke nicht mehr und nicht weniger wollten, als den klaren Sternenhimmel täuschend nachzuahmen, um ihre Beute mit der Illusion in Sicherheit zu wiegen, sie schwirrte, flatterte, segelte auf ihrem Flug gegen die seidenen Fangschnüre in einer friedlichen Sommernacht und einer grenzenlosen Freiheit dahin.
Und dann lief unser Kahn auf seltsam elastischen Grund. Der Fährmann legte das Ruder ins Boot und schaltete seine Stirnlampe ein, die dann, nicht anders als die Lichtglocke einer ganzen Stadt den Nachthimmel, auch hier alle Sternwolken überstrahlte und nahezu zum Verschwinden brachte. Er reichte mir die Hand, um mir aus dem Kahn und an das knisternde Ufer eines unterirdischen Sees zu helfen, auf einen Boden, der dick, ja meterhoch mit toten Insekten bedeckt war, schimmernden Flügeln, Fadenbeinen, Chitinhüllen.
Das monatelange, leuchtende Larvenstadium, ihr Sternendasein, sagte der Fährmann, sei der weitaus längste Abschnitt im Leben dieser Insekten. Schlüpfte aus der Puppe endlich ein geflügeltes Wesen, blieben ihm nur noch ein paar letzte Lebenstage, die allein der Fortpfanzung dienten. Denn die lovers, sagte der Fährmann, die Liebenden, die dann in der Finsternis aufeinander zukrochen oder zuschwirrten, waren ohne Mund, ohne Freßwerkzeuge, ohne Verdauungsorgane und konnten auch nur mühselig fliegen. So warteten sie zumeist in unmittelbarer Nähe ihrer verlassenen Seidennester auf einen Gemahl, mit dem gemeinsam sie dann nach dem Liebesakt und der Eiablage — verhungerten und vom Himmel fielen, auf den felsigen Grund und ins Wasser, das, wenn es unter den Regengüssen der Außenwelt stieg und wieder sank, an manchen Stränden der Höhle diese knisternden Matten aus Überresten aufschichtete, Mumien.
Auf diesen Matten, sagte der Fährmann, würden wir nun noch ein Stück weiter, tiefer ins Innere des Gebirges gehen, in die Nacht, bis an den Rand des Firmaments. Und löschte seine Lampe.
Keine Angst, hörte ich sein nachleuchtendes Bild, einen Unsichtbaren, der mich an der Hand nahm, sagen, keine Angst, wir würden der Milchstraße über unseren Köpfen bis an ihr Ende folgen und brauchten dabei selbst einen Sturz nicht zu fürchten. Denn wer in dieser Finsternis stolperte und fiel, käme auf weichem Grund zu liegen, auf stardust, Sternenstaub.

Claire-Louise Bennett
Kasse 19
S. 118ff
...
Immer wieder erlebte ich Phasen gähnender Leere, in denen ich von einem Gefühl der Verhängnis vollkommen geplättet war. Erdrückt von tiefer Verzweiflung und einer Ängstlichkeit, die sich manchmal durch schmerzhaftes, aber relativ wohltuendes Schluchzen lindern ließ. Ich hatte weder kleine Kinder noch einen untreuen Ehemann - ich hatte viele Freunde und war mitten im Studium - angeblich stand mır die ganze Welt offen - angeblich konnte ich überall hingehen und alles sein. Aber in meinem Herzen fühlte ich mich beraubt, ich trauerte und hatte Heimweh nach einem Ort, den ich noch nie gesehen hatte. Nach einem Ort, den es nicht gab und an den ich dennoch gehörte. Eigentlich ein lächerliches Gefühl. Lächerlich und doch so stechend und beständig. In manchen Momenten sah ich keinen Ausweg mehr. »Während die Abendländer den Schmutz radıkal aufzudecken und zu entfernen trachten«, schrieb Junichiro Tanızaki, Autor von Lob des Schattens, »konservieren ihn die Ostasiaten sorgfältig und ästhetisieren ıhn, wie er ist - könnte man, wenn man wollte, beschönigend sagen; aber wie auch immer, es ist unser Schicksal, dass wir nun einmal Dinge mit Spuren von Menschenhänden, Lampenruß, Wind und Regen lieben oder auch daran erinnernde Farbtönungen und Lichtwirkungen.« Ein Ort, an dem abgenutzte und befleckte Gegenstände wertgeschätzt werden. Der Dunkelheit, Patina und Zerbrechlichkeit den Vorzug gibt. Verglichen mit der westlichen Fixierung auf lichtdurchflutete Räume, funkelnde Armaturen, makellose Oberflächen und ständige Neuerungen erschien mir dieser Ort tatsächlich wie das Paradies. Tanizaki mutmaßt, dass die ästhetischen Unterschiede auf einer tıeferen Ebene etwas über die Einstellung zu Licht und Dunkelheit verraten. Er glaubt, dass wir im Westen den Schatten fürchten und versuchen, ihn zu vertreiben, während die Japaner eher dazu neigen, »den Schatten einem ästhetischen Zweck dienstbar zu machen«, und deshalb in der Lage sind, auf Tuchfühlung mit Geistern, Geheimnissen, dem Alten und dem Schimärischen zu gehen. Ich glaube keinen Moment lang, dass die kulturellen Vorstellungen darüber, wie Frauen zu leben und sich zu benehmen haben, in Japan jemals besser waren, ganz und gar nicht, aber das schmälert nicht den Wert von Tanizakis »sichtbarer Dunkelheit«, womöglich eine unbeabsichtigte Abwandlung von Miltons »sichtbarem Finster«, welche die höllischen Konnotationen des schaurigen Oxymorons verwandelt und andeutet, die Schwärze ın unserem Innern könnte gebannt, vielleicht sogar überwunden werden, wenn sie die Schwärze des Außen erblickt. Dieser übernatürliche und besondere Ort hat »etwas Glitzerndes, Flimmerndes an sich [...] Kobolde und Geistererscheinungen traten wohl vorzugsweise aus dieser Art Dunkelheit hervor; und die Frauen, die darin wohnten, hinter tiefen Vorhängen versteckt und mehrfach von Stellschirmen und Schiebetüren umgeben, gehörten sie letzten Endes nicht auch zur Sippe der Phantome?« Nach Tanizakis stimmungsvoller Schilderung ist das Zuhause kein begrenzter, statischer Ort, abgeschottet und unempfindlich gegen äußere und vergangene Einflüsse — japanısche Innenräume sind durchlässig, wandelbar und unendlich geeignet, »den Menschen unwillkürlich in eine meditative Stimmung« zu versetzen. Ja, das klingt nach einem Ort, an dem ıch mich zu Hause fühlen könnte. Das moderne Zuhause, das heute oft als Lebens- und Rückzugsbereich gilt, wird durch den zunehmenden Anspruch an seine Funktionalität immer heller, lichter und homogener. Und wer erledigt die Arbeıt, die es Tag für Tag braucht, um sicherzustellen, dass alle diese Räume gleichbleibend hell, licht und funktional sind? Bequemlichkeit ersetzt das Ritual, Geräte ersetzen die Tagträume, Strahler ersetzen Schatten, und das Missverhältnis zwischen Innenleben und Außenwelt wird immer krasser. Doch in einem Zuhause, das durch Kabel und Leitungen an seine Funktionen, sein Inventar und seine Apparaturen gefesselt ist, wırd Schalter für Schalter eine kosmische Verbindung kurzgeschlossen, bis es am Ende kein Tor zu anderen Welten mehr darstellt. Und die Bewohnerin stellt verwirrt fest, dass sie an einem Ort, der sie doch eigentlich inspirieren und entspannen sollte, eine penetrante, anhaltende, fast vorwurfsvolle Entfremdung spürt. Wenn alles erleuchtet und von Schatten bereinigt ist, wohin zieht sich dann ihr inneres Wesen zurück, was ist mit seinem Bedürfnis zu träumen? Vielleicht verzieht es sich ins Bett, vielleicht kippt es Möbel um, vielleicht bemalt es die Wände, vielleicht ıst da plötzlich eine Ente, vielleicht lässt es eines Tages einfach alles hinter sich. Die Zwiesprache mit der Dunkelheit in all ihrer ursprünglichen und potenziell umgestaltenden Kraft ist beunruhigend, keine Frage. Aber wer will schon ständig mit beiden Beinen auf dem Boden stehen? Es scheint mir völlig unvertretbar, dass jemand es jemals für notwendig und richtig hielt, elektrischen Strom durch die Falten eines fremden Verstandes zu jagen und mit einem blitzartigen Gleißen die intime Schwärze in seinem Kern auszulöschen.
...

Elfi Conrad
Schneeflocken wie Feuer
S. 200ff
...
Die große Pause in der Schule ist das Leben oder die Illusion
davon.
Im Winter dürfen wir nicht auf den Schulhof. Schnee stapelt sich dort oder es herrscht Glatteis. Die Schüler marschieren in der großen Pause im Flur herum, zu zweit oder zu dritt am Rand entlang. Immer im Kreis, immer im Kreis,
der ein langgestrecktes Oval ist.
Ich komme an einer bestimmten Stelle an bestimmten Jungen vorbei. Das sind die Momente, die ich im Kopf habe während des Unterrichts. Ja, sie werden weitgehend sublimiert, diese vorweggenommenen Momente, aber sie sind
immer da. Unterschwellig feuernd.
Ein Jahr zuvor habe ich einen Stretch-Skianzug bekommen, der als Ganzes meinen Körper wie eine zweite Haut umspannt. Man zieht den Pulli darunter und trägt ihn mit einem breiten Ledergürtel. Zufällig hat meine Freundin
Gesine einen ähnlichen Anzug und wir machen wie Zwillinge die Runde. Vorher haben wir unsere Gürtel fester geschnürt und wenn wir an interessanten Jungen vorbeikommen, bringen wir unsere figurbetonten Silhouetten in Stellung. Schicken glühende Blicke hinüber oder wenden
uns zum Schein ab.
Treffen wir uns nach der Schule an der Eisbahn?", ruf Gunther. „Um drei", schreie ich.
Deutschunterricht, die Schüler lesen Goethes Faust I laut vor. Währenddessen dichte ich selbst, allerdings reime ich nicht. Reimen finde ich albern, es sei denn, es ist zu einem familiären Anlass und es ist komisch.
Meine Schulkameraden versuchen zu interpretieren, während der Deutschlehrer immer wieder seine Sekundärliteratur zu Rate zieht. Versuchen, der Bedeutung des Dramas auf den Grund zu gehen, was mir nicht sonderlich schwierig erscheint. Genauso wenig wie bei Kafkas Die Verwandlung. Die Erwachsenen sagen, man könne die Geschichte als junger Mensch nicht verstehen. Was soll daran schwierig sein? Es ist doch offensichtlich, dass Gregor nicht tatsächlich in einen Käfer verwandelt wurde und es um den Zustand
seiner Seele geht.
Die Schüler reden über Fausts Zweifel am Erkenntnisgewinn der Wissenschaften, die nicht erklären könnten, „was die Welt im Innersten zusammenhält". Reden über seinen vergeblichen Versuch, der Natur mittels des Erdgeists auf die Spur zu kommen.
Das ganze Werk finde ich pädophil und obszön. Die Wörter „pädophil" und „obszön" kenne ich nicht, nur ihre Bedeutung. Ich fühle mich dem vierzehn Jahre alten Gretchen nahe. Es hat ein arbeitsreiches Leben und hat sein Schwesterchen aufgezogen, da seine Mutter krank war.
„Schlagen Sie mal die Stelle auf, wo Faust auf Gretchen trifft. Lesen Sie bitte weiter, Franz, und Sie, Dora! Sie wollen doch Schauspielerin werden oder war es Musikerin?"
„Bin weder Fräulein, weder schön „." Ich unterbreche das Lesen: „Warum heißt es eigentlich das Fräulein und das Gretchen? Sie ist doch kein Kind! Und das klingt so sächlich!"
„Wollen Sie jetzt die deutsche Sprache verändern?", fragt der Deutschlehrer.
Ja, würde ich gern sagen. Aber wir schreiben das Jahr 1962, da sagt man so was nicht und eine Frau schon gar nicht. Ich darf auch nicht sagen, dass ich das alles ekelhaft finde. Vor allem diese Sache, wie der alte Mann sich, vom Kuppelweib unterstützt, an das „reine" Mädchen ranschmeißt und es
mithilfe des Teufels verführt.
Und ich darf nicht sagen, dass ich es für ein Armutszeugnis halte, dass der Dichterfürst die Geschichte geklaut hat. Dr. Faustus und sein Teufelspakt war eine Legende und es gab mehrere Kindesmorddramen, bevor Faust !veröffentlicht wurde, davon hat der Deutschlehrer zur Einstimmung
erzählt.
Es gab tatsächlich Frauen, die ihr Baby aus Verzweiflung töteten, weil sie die Schmach fürchteten, ein uneheliches Kind zu haben. Der Deutschlehrer schilderte - ob aus Sadismus oder aus Mitleid, war nicht zu erkennen -, wie die
Frauen auf dem Abort ihr Kind gebaren und völlig außer sich waren. Oder wie sie es im Wald bekamen, ganz allein, und es vor Entsetzen gleich verscharrten. Und oft sei es um den Standesunterschied gegangen, darum, dass die feinen
Herren sich an den einfachen jungen Mädchen vergriffen hätten.
Der Deutschlehrer berichtete auch, dass Goethe selbst die öffentliche Hinrichtung der Kindsmörderin Susanna durch das Schwert erlebt habe. Dass er sich in einem anderen Fall bei einer Gerichtsverhandlung sogar für die Tötung einer ledigen Mutter ausgesprochen habe, die ihr Neugeborenes umgebracht habe.
Der Deutschlehrer kam mir, während er das berichtete, völlig teilnahmslos vor. Dafür erzählt er des Öfteren lang und breit von seinen Zahnarztbesuchen. Von der unerträglichen Qual, die er aushalten muss, und von seinen Gebissen
oder Teilgebissen. Er beklagt sich außerdem über das Verhalten seiner Frau. Nichtigkeiten, die ich vergessen habe. Ich bedauere die Ehefrau, die mit so einem wehleidigen Trottel verheiratet ist.
Nur halbherzig höre ich zu, mir ist das Ringen Fausts um Erkenntnis völlig egal. Eine Erkenntnis, die er perverserweise auf Kosten eines naiven Mädchens zu gewinnen sucht. Ich denke an Gretchen und ihr Schicksal und das von Tausenden von Frauen.
Heinrich, nein, Goethe, mir graut vor dir!
Wie kann sich ein Mann, der sich für die Hinrichtung von Frauen ausspricht, die ihr Kind aus Verzweiflung getötet haben, und der erlebt hat, dass eine dieser Frauen mit dem Schwert hingerichtet wurde, in den Verführer hineinfantasieren und es dann so enden lassen, wie es in der damaligen
Gesellschaft endet, ohne daran Kritik zu üben?
Mehr und mehr steigere ich mich hinein in meine Wut. Ich denke an meine Großmutter und das, was alle diese Frauen durchgemacht haben, von denen Goethe und der Lehrer, der gemütlich an seinem, Pult sitzt, nicht die geringste Ahnung haben, und springe auf. Springe mitten zwischen die Sätze, die gerade gelesen werden.
„Das ist doch alles lächerlich! Ringen um Erkenntnis, pah! Und dann geht's nur darum, ein halbes Kind ins Bett zu kriegen!"
Ich springe nicht auf. Ich sage nichts. Unterdrücke meinen Impuls. Mein Verhalten würde sich herumsprechen. Ich wäre bei den Lehrern unten durch und sie würden einen Grund finden, mich von der Schule zu werfen. Ich presse
meine Lippen zusammen und fresse meine Wut in mich hinein.
Erst nach meinem Abitur werde ich sie herauslassen und ein wenig Rache am Deutschlehrer nehmen. Während der Abifeier führt meine Klasse Sketche auf, versetzt einige Szenen in die Gegenwart. Es ist eine gute Gelegenheit, sich auf
diese Weise über Goethes Faust und den Deutschlehrer lustig zu machen. Wir versehen die Szenen mit saloppen, etwas vulgären Worten. Ich spiele das Gretchen und wir amüsieren uns königlich.
Der Deutschlehrer ist wenig amüsiert, steuert wütend den Tisch meiner Eltern an und ruft: „Die Sketche sind eine Frechheit! Die Schüler hatten übrigens Tränen in den Augen, als wir Faust durchgenommen haben."
...

Ernst Wiechert
Missa Sine Nomine
57
„Aber was soll nun werden?“ fragte Amadeus weiter.
„Das weiß niemand, Bruder“, erwiderte Ägidius. „Manchmal in der Geschichte gibt es wohl kurze Zeiten, in denen nichts wird. Nichts jedenfalls, was unsre Augen sehen können. Es war soviel, daß das Gewesene sich erst niederschlagen muß, ehe etwas wird. Und dann werde ich versuchen, etwas zu finden. Arbeit, weißt du. Ein Feld, eine Herde, einen Pflug. Es ist mir schwer, ohne einen Pflug zu leben, Bruder, verstehst du das?“

Fernando Pessoa
Das Buch der Unruhe
41
Sinfonie einer unruhigen Nacht
Alles schlief, als wäre das Universum ein Versehen; und der unbestimmt flatternde Wind war eine gestaltlose Fahne, gehißt über einer nicht vorhandenen Kaserne. Ein Nichts zeriss in den brausenden Lüften, und die Fensterrahmen rüttelten an den Scheiben, damit man der höchsten Not gewahr wurde. In der Tiefe von allem war stumm die Nacht, Gottes Grab (die Seele erfüllte Mitleid mit ihm).
Und plötzlich – eine neue Ordnung des Universums wirkte über der Stadt – pfiff der Wind in einem Intervall des Windes, und man bekam eine schlaftrunkene Vorstellung von dem stürmischen Treiben in den Höhen. Dann schloß sich die Nacht wie eine Falltür, und eine große Ruhe ließ das Bedürfnis aufkommen, all dies verschlafen zu haben.
228
Welch wollüstig […], übersinnliches Vergnügen, bisweilen nachts durch die Straßen der Stadt zu streifen und von meiner Seele aus die Häuserzeilen zu betrachten, die unterschiedlichen Bauwerke, die archtektonischen Details, das Licht in Fenstern, die Blumentöpfe, die jeden Balkon anders erscheinen lassen – welch unmittelbare, große Freude empfinde ich, wenn beim Anblick all dessen über die Lippen meines Bewußtseins der erlösende Schrei kommt: Nichts, nichts von alledem ist wirklich!

Gao Xingjian
Das Buch des einsamen Menschen
273f
…
Du wolltest der kleine Junge sein, der auf einem Platz in Brüssel vor sich hin pinkelte, Männer wie Frauen hielten den Mund offen, um sein gepinkeltes Wasser zu trinken, und die Mädchen kicherten an der Seite, und du wärst wiederum ein alter Kerl, der in der Kneipe herumsaß und vor sich hinstarrte, so alt, dass dein Gesicht von tiefen Falten durchfurcht war, egal ob du lachtest oder nicht, und du tränkst einen Schluck Bier, so dunkel wie Sojasoße.
Du wolltest laut in der Menge losheulen, aber brachtest keinen Ton hervor. Niemand wusste, warum du weintest, oder ob du wirklich weintest oder dich nur weinend stelltest. Du wolltest weinen über diese Welt, die nur so tat als ob, aber natürlich kam kein Laut aus dir hervor, und dein gestelltes Weinen würde das ergebene Publikum völlig verunsichern. Dann würdest du deine Brust aufreißen und ein rotes Plastikherz hervorholen, etwas Reisstroh oder auch Taschentücher und all das in die applaudierende Menge werfen, leichtfüßig davontrippeln, und dann, dann würdest du ausrutschen und nicht mehr auf die Füße kommen, du würdest auf der Bühne einen Herzinfarkt erleiden und sterben, du würdest aber, ehrlich gesagt, keinen Sanitäter brauchen, denn das wäre alles Theater, eine Form, durch die du deinen Schmerz und deine Freude, deine Verletzungen und Hoffnungen sichtbar machen könntest, mit einem listigen Grinsen, ohne dass klar wäre, ob du lachen würdest oder eine Grimasse ziehen. Dann würdest du verschwinden mit einem Mädchen, das du gerade kennengelernt hast und das sich in dich verliebt hat, und sie auf der Toilette im Stehen nehmen. Man würde deine Beine sehen können, sie hätte ihre Beine um deine Hüften geschlungen. Du würdest die Spülung ziehen und wollen, dass es immer weiter rauschte und dich selbst hineinspülte und die ganze Welt Tränen vergösse, so dass alle Glasfenster der Welt vom Regen reingewaschen würden, dass sich die ganze Welt in eine Trübnis von Regen und Nebel verwandelte, und da würdest du am Fenster stehen und die Schneeflocken betrachten, die lautlos im Wind herumtrieben und ganz allmählich die ganze Stadt bedeckten wie ein riesiges weißes Leichentuch, und du vor dem Fenster würdest schweigend daran denken, dass er sich selbst verloren hat…

Gerhard Henschel
Jugendroman
91
John Wayne gefiel mir trotzdem, auch in diesem Western. Rauhe Schale, weicher Kern. Renate hatte mir mal gesteckt, daß John Wayne ein ultrakonservativer Fiesling sei, aber wen interessierte denn die politische Einstellung von Schauspielern? Mir wär’s auch egal gewesen, wenn Raimund Harmstorf CDU gewählt hatte. Na ja, so ganz egal vielleicht nicht. Aber für welche amerikanische Partei John Wayne war, das ging mir doch am Arm vorbei. Vielleicht hätte Renate mal selbst in der Salzwüste von Arizona in so ’nem Planwagen liegen sollen, in anderen Umständen, mit höllischem Durst dazu und womöglich noch mit ’ner Schußverletzung. Wenn dann zufällig John Wayne des Wegs gekommen wäre, hätte Renate ja auch nicht erst über die Gleichberechtigung der Frau diskutiert, sondern sich gefreut, daß ihr da ein gestandenes Mannsbild zu Hilfe eilte und nicht der Juso-Chef von Idar-Oberstein, mit Hängeschultern und Kassengestell.

Haruki Murakami
Naokos Lächeln
310f
…
Mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen kuschelte sich Hatsumi in ihre Ecke der Rückbank. Ihre kleinen goldenen Ohrringe blitzten auf, wenn das Taxi schaukelte, und ihr mitternachtsblaues Kleid schien wie geschaffen für das Halbdunkel und das Wechselspiel von Licht und Schatten im Wagen. Ihre schönen, pastellfarben geschminkten Lippen bebten von Zeit zu Zeit, als hätte sie beinahe laut mit sich selbst gesprochen. Als ich sie so ansah, wußte ich, warum Nagasawa sie zu seiner besonderen Gefährtin auserkoren hatte. Bestimmt gab es hübschere Frauen als Hatsumi, und Nagasawa konnte die meisten davon haben. Aber Hatsumi hatte etwas an sich, das einen innerlich erbeben ließ. Diese Kraft, die von ihr ausging, bedrängte einen nicht. Es war eine unaufdringliche Kraft, die etwas im Herzen anderer Menschen in
Schwingung versetzte. Während der ganzen Fahrt nach Shibuya beobachtete ich sie, um zu erforschen, woher die emotionale Resonanz rührte, die sie in meinem Herzen auslöste, doch ich fand keine Antwort.
Es wurde mir erst zwölf oder dreizehn Jahre später klar. Ich saß in Santa Fé in Neu-Mexiko, wo ich ein Interview mit einem Maler machen wollte, in einer Pizzeria, trank Bier, aß Pizza und wurde Zeuge eines märchenhaft schönen Sonnenuntergangs. Alles war in strahlendes Rot getaucht, meine Hände, die Teller, die Tische. Mitten in diesem überwältigenden Sonnenuntergang mußte ich plötzlich an Hatsumi denken. In diesem Augenblick verstand ich, warum sie mein Herz zum Beben gebracht hatte. Es fühlte sich an wie eine Kindheits-sehnsucht, die unerfüllt geblieben war und immer unerfüllt bleiben würde. Eine reine, makellose, längst vergessene Sehnsucht, die irgendwann auf der Strecke geblieben war und von der ich nicht gewußt hatte, daß es sie in meinem Innern noch gab. Etwas, das lange Zeit in mir – in einem Teil von mir – geschlummert und das Hatsumi in mir geweckt hatte. Als mir das bewußt wurde, ergriff mich eine solche Traurigkeit, daß ich fast in Tränen ausge-brochen wäre. Hatsumi war eine ganz besondere Frau gewesen. Jemand hätte sie retten sollen.
...

Honorée Fanonne Jeffers
Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois
279ff
…
Abdul hob die Hand. »Warum hat dieser De Saussure diesen berufsbezogenen Zweig wie am Tuskegee aufgemacht? Ich kapier das nicht. Weiß doch jeder, dass Booker T. Washington ein Onkel Tom war.«
»Ach ja? Und wen meinen Sie mit >jeder<, wenn ich fragen darf? «, antwortete unser Professor.
»Na, jeder in Philly. «
»Verraten Sie mir eins. Trägt irgendeiner Ihrer Freunde in Philadelphia eine Waffe bei sich?«
»Na klar haben wir die Dinger.« Abdul sah sich grimmig um, als hätte er vor, die gesamte Bourgie-Fraktion zu erschießen.
»Hier im Süden tragen zivilisierte Schwarze Männer keine Waffen bei sich. Wir tragen unseren Intellekt bei uns. Hier unten müssen Afroamerikaner lernen, wie man improvisiert. Genau das hat Mr. Booker T. Washington am Tuskegee getan, und genau das hat Mr. De Saussure auch an unserem College getan. Er wusste, dass gewisse weiße Südstaatler nicht wollten, dass Afroamerikaner aufs College gingen, und darum hat er diese Weißen mit der Einführung eines berufsorientierten Zweigs getäuscht. Auf diese Weise wussten sie nicht, dass wir auch in Naturwissenschaften, Mathe, Literatur und Fremdsprachen unterrichtet wurden. Und ich bin dankbar für diese Improvisation, denn dieses College stand noch, als ich mich im Herbst 1954 einschrieb, und wurde nicht vom Ku-KluxKlan in Schutt und Asche gelegt. Freut Sie das nicht?«
Die Bourgie-Fraktion nickte und wandte sich zu Abdul um, doch er blieb still und befummelte seinen Zweig wie einen Talisman.
Dekan Walters fuhr mit dem Bau der Gebäude auf dem Campus fort. Das Plantagenhaus wurde 1856 von Matthew Parson erbaut. Die Scheune, die nicht mehr stand, war im selben Jahr erbaut worden. Das Schulhaus wurde bereits vor dem offiziellen Gründungsjahr des Routledge College errichtet, und zwar entweder 1971 oder 1872.
Keisha hob die Hand. »Darf ich Sie etwas fragen? Sie sagen doch, das hier war ein Schwarzes College, oder?«
»Das ist richtig, Miss Evans, Routledge ist eine höhere Bildungseinrichtung
für Afroamerikaner, auch wenn wir seit unserer Gründung ein College mit Chancengleichheit sind. Jeder ist hier willkommen.«
»Aber wenn es ein Schwarzes College ist, warum sehen die meisten Leute auf den Fotos in der Bibliothek dann nicht so aus? «
»Wie sehen sie denn Ihrer Meinung nach aus?«
»Na, wie Weiße.«
Die Bourgie-Fraktion zuckte zusammen.
» Tja, es sind keine Weißen, Miss Evans. Seien Sie versichert, dass diese Studenten Afroamerikaner waren.«
»Ich finde, sie sind viel zu hell.«
»Das ist eine sehr unhöfliche Bemerkung. Und nun lassen Sie mich zurückkehren zu ... «
Ich hob die Hand. Roz stieß mich an, aber ich drehte mich weg. »Warum ist es unhöflich? Sie ist nur ehrlich.«
Dekan Walters legte die Kreide in das dafür vorgesehene Fach an der Tafel. »Ihre Mutter und Ihr Vater sind beide Routledge-Absolventen, Miss Garfield, nicht wahr? Wenn ich mich nicht irre, waren sie im Abschlussjahrgang 1966. Das ist doch richtig, oder?«
Überall in der Kapelle wurde getuschelt. Ich rutschte auf meinem Stuhl herum. »Ja, Sir. «
»Und Ihre Eltern sind beide Afroamerikaner. Richtig?«
»Ja, Sir. «
»Und Ihre Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits sind ebenfalls Afroamerikaner. Richtig? «
„ Ja, Sir. «
»Und ich nehme doch an, dass die Mitglieder Ihrer Familie ganz unterschiedliche Schattierungen aufweisen. Richtig?« Er drückte sich so weit vor auf die Spitzen seiner Wingtip-Schuhe, dass ich glaubte, er würde gleich ein Plie machen. »Miss Garfield, ich habe Ihren Vater kennengelernt, und ich wurde von Ihrem Urgroßonkel Dr. Freeman Hargrace unterrichtet. Würde es Ihnen gefallen, wenn jemand sagen würde, einer der beiden sei zu hell, wo doch Gott ihn so schuf? Das würde es nicht. Außerdem sät diese Art von Diskussion nur Zwietracht in unseren Reihen. Und das wollen wir doch nicht, oder?«
Dekan Walters schnappte sich erneut die Kreide und widmete sich wieder der Erbauung der Campusgebäude. Keisha legte mir die Hand auf den Arm. Sie drückte liebevoll zu.
Am selben Nachmittag hatten die Klatschmäuler auf dem Campus meinen Mitbewohnerinnen und mir einen neuen Spitznamen verpasst. Sie nannten uns » The Tao-Light Crew«.
...

Ingeborg Bachmann
Sämtliche Gedichte
182f
Keine Delikatessen
Nichts mehr gefällt mır.
Soll ich eine Metapher ausstaffieren
mit einer Mandelblüte?
die Syntax kreuzigen
auf einen Lichteffekt?
Wer wird sich den Schädel zerbrechen über so überflüssige Dinge -
Ich habe ein Einsehn gelernt
mit den Worten,
die da sind (für die unterste Klasse)
Hunger
Schande
Tränen
und
Finsternis.
Mit dem ungereinigten Schluchzen,
mit der Verzweiflung
(und ich verzweifle noch vor Verzweiflung)
über das viele Elend,
den Krankenstand, die Lebenskosten,
werde ich auskommen.
Ich vernachlässige nicht die Schrift,
sondern mich.
Die andern wissen sich
weißgott
mit den Worten zu helfen.
Ich bin nicht mein Assistent,
Soll ıch
einen Gedanken gefangennehmen,
abführen in eine erleuchtete Satzzelle?
Aug und Ohr verköstigen
mit Worthappen erster Güte?
erforschen die Libido eines Vokals,
ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten?
Muß ich
mit dem verhagelten Kopf,
mit dem Schreibkrampf in dieser Hand,
unter dreihundertnächtigem Druck
einreißen das Papier,
wegfegen die angezettelten Wortopern,
vernichtend so: ich du und er sie es
wir ihr?
(Soll doch. Sollen die andern.)
Mein Teil, es soll verloren gehen.

Irène Némirovsky
Suite francaise
305f
…
Mit einem Buch und einer Handarbeit hatte sich Lucile Angellier in den Schatten des Kirschbaums gesetzt. Es war die einzige Ecke des Gartens, wo man Bäume und Pflanzen hatte wachsen lassen, ohne an ihren möglichen materiellen Ertrag zu denken, denn diese Kirschbäume trugen nur wenige Früchte. Aber es war die Zeit der Blüte. Vor einem strahlend blauen Himmel, so
blau wie manches kostbare Sèvres-Porzellan, prächtig und glänzend zugleich, schwebten Zweige, die mit Schnee bedeckt zu sein schienen. Der Windhauch, der sie bewegte, war noch kalt an diesem Tag im Mai; die Blütenblätter schützten sich sanft, zogen sich mit einer Art fröstelnden Anmut zusammen und wandten ihr Herz mit seinen hellen Griffeln der Erde zu. Durch einige von
ihnen schien die Sonne hindurch und enthüllte in den weißen Blütenblättern ein Geflecht feiner Äderchen, die der Zartheit, der Stofflosigkeit der Blume etwas Lebendiges, fast Menschliches hinzufügten, insofern das Wort «menschlich» sowohl Schwäche wie Widerstandskraft bedeutet; man verstand nun, warum der Wind diese bezaubernden Geschöpfe schütteln konnte, ohne sie zu zerstören, ja sogar ohne sie zu zerknittern. Verträumt ließen sie sich wiegen; es schien, als würden sie gleich herabfallen, doch hingen sie fest an ihren dünnen, glänzenden, harten Zweigen, die ein wenig metallisch aussahen, so wie auch der schlanke, glatte, wie aus einem Guß wirkende, grau und purpurn schillernde Stamm. Zwischen den weißen Büscheln erschienen längliche kleine Blätter; im Schatten waren sie von zartem Grün, mit silbrigen Härchen bedeckt; in der Sonne wirkten sie rosa. Der Garten zog sich an einer engen Straße, einer Dorfgasse entlang, an der kleine Häuser standen; die Deutschen hatten darin ihr Pulverlager untergebracht, und ein Wachtposten marschierte unter einem roten Anschlag auf und ab, der in dicken Buchstaben die Aufschrift trug:
VERBOTEN
und darunter in französischer Sprache in kleinen Buchstaben:
Es ist bei Todesstrafe verboten sich diesem Lokal zu nähern.
Die Soldaten striegelten die Pferde, pfiffen, und die Pferde fraßen die frischen Triebe der jungen Bäume. Überall in den Gärten, die die Straße säumten, arbeiteten Männer mit friedlicher Miene. In Hemdsärmeln und Samthosen, einen Strohhut auf dem Kopf, gruben sie die Erde um, entfernten Raupen, gossen, säten, pflanzten. Manchmal kam ein deutscher Soldat an den Zaun eines dieser kleinen Gärten und bat um Feuer für seine Pfeife oder um ein
frisches Ei oder um ein Glas Bier. Der Gärtner gab ihm, was er verlangte, blickte ihm dann, auf seinen Spaten gestützt, nachdenklich nach und nahm schließlich seine Arbeit mit einem Achselzuckenwieder auf, das vermutlich einer Fülle von Gedanken entsprach, Gedanken, die so zahlreich, tief, ernst und sonderbar waren, daß er keine Worte fand, sie auszudrücken.
...

Judith Schablansky
Verzeichnis einiger Verluste
192f
Valle Onsernone
Enzyklopädie im Walde
Test, Test, eins, zwei, drei, vier, fünf. Sie hören Radio Monte Carlo. Test, Test, sechs, sieben, acht, neun. Gut. Beginnen wir mit unserem Abendprogramm: Jetzt sind wir im Dorf des Onsernonetals angekommen, nicht wahr? Dieses Dorf liegt zwei Stunden hinter Locarno. Du nimmst den Zug, und du kommst in Auressio an. Das Haus liegt etwas abseits. Du steigst einen kleinen Weg
hinunter. Du wirst ja im Mai kommen, da ist das Wetter schön. Du wirst das Haus leicht finden, und die Tafel davor, die dich dazu auffordert, an die Tür zu klopfen, denn die Klingel funktioniert nicht mehr. Du wirst an der Eingangstür die Gorgo antreffen und ihrem Blick standhalten. Du wirst den Garten sehen, all die Tafeln. Du wirst sie lesen, sie verstehen. Das Gelände ist groß, ein schönes Stück Land: abschüssig, felsig, dicht bewachsen mit einem Kastanien-wald. Gen Süden fällt es steil hinab. Vom unteren Zaun aus hört man das Rauschen des Isorno. Die alte Kantonstraße führt quer hindurch. Heute ist es ein Spazierweg, auf dem die Fremden kommen und durch mein Grundstück wandern, die Domaine Numero 1. Ich besitze fernerhin die Domaine Numero 2 in Alp Campo südlich des Passübergangs ins Maggiatal und die Domaine Numero 3 in Sotto Cratolo.
Die Leute, die hierherkommen, lesen die Tafeln, aber sie lesen nicht richtig. Sie können gar nicht lesen, denn sie lesen nur zur Erregung des Geistes, zur Erregung des Gefühls. Man muss aber lesen, um zu ordnen. Und alles, was man ordnet, muss erst einmal abgeschrieben werden. Nur so kann Ordnung entstehen. Mein System ist, Gleiches zu Gleichem zu tun: In der Abteilung das Wunderbares die Wirkungen der Verehrung der Therese von Lisieux sowie die blutigen Tränen und Wundmale der Therese Neumann von Konnersreuth, in die Nähe die erstaunliche Unverwundbarkeit des Mirin Dajo, der das Florett seinen Körper durchstoßen ließ, und gleich daneben die größten Schiffskata-strophen der Welt. Die Nobelpreise zu den Enyklopädien, Linné zu den Tieren und Pflanzen, die Schmetterlinge zur Philosophie, der Dünger zur Diättabelle, die Radiästhesie und Strahlung zu den Glückschancen, die Mondlandung zu den fliegenden Ufos, die Ufos und Fakire zur Parapsycho-logie und den Rätseln der Menschheit. Die Sonnenfleckentabelle zum Grillplatz, die Geheim-nisse Tibets gleich hinter den Baum der Psychoanalyse und die Tafel zum Ameisenstaat direkt über den Ameisenhaufen. Geschriebenes muss sich mit Erlebtem verbinden. Eine Enzyklopädie im Walde. Das Wissen der Menschheit ist hier zusammengetragen. Es hängt in den Bäumen. Es ist natürlich nicht vollständig. Es kann ja gar nicht vollständig sein. Diese ganzen Schilder zu schreiben, das war eine Arbeit! Man muss immer etwas Nützliches tun im Leben. Etwas sammeln, wenn man unterwegs ist, einen Apfel aufheben, eine Kastanie, eine Dose. Alles kann man noch gebrauchen. Man darf nichts wegwerfen, nicht ein kleines Stück Papier. Auch mit Bleistiftstummeln lässt sich präzise arbeiten. Aus Blechbüchsen lassen sich Schilder machen, wenn man sie plättet. Immer gibt es Arbeit: Unkraut, das man wegmachen, ver-rostete Schilder, die man reparieren, Maroni, die man schälen muss. Sie saugen sich voll und schmecken nach dem, was man hinzutut. In Zuckerwasser werden sie ganz süß. Und in Bouillon herzhaft. Der Nährwert ist hoch. Man muss den Nährwert kennen. Vor allem, wenn man keine Zähne mehr hat. Mandeln kann ich nicht mehr essen. Ich koche gut. Zum Mittagessen genügt
ein halber Liter Milch und ein Brötchen. Man braucht ja nichts. Nichts braucht man wirklich. Höchstens eine Frau. Interessiert sollte sie sein, lernwillig, jung. Eine, die noch nichts weiß. Eine, der man alles beibringen kann. Ideal wäre ein junges Mädchen von 18 bis 25 Jahren zum Heiraten oder Adoptieren, ein Waisenmädchen oder eine junge Erbin.
...

Katja Kettu
Wildauge
87ff
Titowka, Juli 1944
Der Russenbengel und ich scheuerten den Schweiß der Iwans von den Schwitzbänken. Meine Hände zitterten, als ich Wildhonig, Eberesche und Baldrianwurzel in den Kübeln mischte. Ich ließ den Russenbengel Wacholderzweige auf den Boden streuen und am Türrahmen befestigen. Manchmal setzte ich mich und kraulte der Kriegshündin den Nacken. Ich keuchte. Ich keuchte, seitdem du in der Tür neben mir gestanden und gefragt hattest:
»Fräulein Schwester, würdst du mir ’n Bad machen?«
Du wirktest besorgt. Lispet Näkkälä lag im Bett und winselte. Ihr Blut war in einer einzigen Nachtschlickig geworden, und ihr Unterleib stank wie ein Verdorbener Hering. Ich beruhigte sie. Die Totenerweckerin würde das mit Wismutspritzen und Baldrian behandeln.
»Das sind nur so ’ne Frauensachen. Die gehn von allein weg, wenn du dich bisschen ausruhst.«
Ich massierte mir Talkum in die mit Chlorwasser rasierten Achselhöhlen. Das Gesicht rieb ich mir mit Tau ab und gurgelte mit Katzenminze. Der Russenbengel krauselte mir den Pony, und seine Kriegshündin schlappte die Ringelblumensalbe ab, mit der ich mir die Knöchel eingerieben hatte.
»Iswinitje. Das is ’ne gute Hündin.«
Ich bestimmte, dass alle anderen Bäder dieses Abends ausfallen sollten und kümmerte mich nicht um das Schnauben der Totenerweckerin. Mochten die Maultiere und Hengstfohlen, die kastriert werden sollten, doch krepieren. Mochten sich die Kirgisen doch in den Schlaf weinen, mochte man sie doch mit Brühfutter und Fliegenlarven füttern. Wir würden das wonnigste Dampfbad der Welt bereiten, gewürzt mit Sumpfporst, in dem die Seele zur Ruhe kommt und noch Stunden danach einen bläulichen Harzschlaf schlummert. Wir schleppten eine Wanne mit Kupferbändern hinein. Langsam füllte ich sie mit vogelmilchigem Badewasser. An der Oberfläche schlug ich Schaum mit Kräuterauszügen und trällerte dabei. In diesem Bad Würdest du Wunderbar weich werden. Schröpfeisen und Schröpfhörner legte ich in Reichweite auf einen Schemel. Damit würde ich das Böse aus deinem Rückenmuskel schlagen. Mit einem Aufguss reinigte ich die Luft von Kohlegas und ließ den Rauch sich setzen.
Wie ein dunkler Strich kamst du durch die Tür. Du zogst dich langsam aus, und ich wagte es nicht, dir dabei zuzusehen. Die Kerzen warfen in dem Wasserdampf flackernd schwankende Schatten an die Wände. Irgendwie hilflos bliebst du neben der Wanne stehen:
»Fräulein Schwester, soll ich da reinsteigen?«
Draußen spielte die Moskauer Philharmonie wehmütig slawisch-liebreizende Melodien. Dein Fuß tastete mit neckisch gespreizten Zehen nach der dampfend heißen Wanne. Dann schlüpftest du hinein und ächztest. Ich goss dir dunkles, duftendes Kräuterwasser zwischen die Schulterblätter. Bis in die Lenden hinein spürte ich einen warmen Impuls.
»Ich muss dich was fragen.«
»Alles, was du willst.«
Mein Johannes, mein Liebster.
Da legte sich plötzlich deine Hand um mein Handgelenk.
»Wildauge.«
Es war das erste Mal, dass du mich so nanntest.
»Wildauge, ich hab böse Träume.«
»Was träumst du?«
Einen Augenblick lang zögertest du.
»Das weiß ich nich mehr.«
Ich legte dir ein heißes Lavendelhandtuch auf die Stirn. Die Schmierseife presste ich zu Schaum und begann, dich zu massieren. Mit langsamen, langsamen Bewegungen. Du stöhntest vor Wohlbehagen und tauchtest tiefer in die Dämpfe ein.
»Und das Gelächter, hörst du das?«
»]a, das hör ich«, antwortete ich. Obwohl ich es nicht hörte.
Du erzähltest, dass du nachts von dem Gelächter einer Frau aufwachtest, das von den Fjälls herüberschallt.
»Ich weiß, was das is. Der Russki lässt da aus gewaltigen Lautsprechern Frauengelächter ertönen, damit der Feind durchdreht.«
Frauengelächter? Warum? Ich wagte nicht, das zu fragen. Ich versprach, dir einen Schlaftrunk zu bereiten und zu singen, falls du das wolltest.
»Meine Mutter Annikki konnte schön singen.«
Ich begann zu summen. Und spürte, wie dein Zeigefinger eine Linie über meinen in der Ellenbogenbeuge pochenden Puls zog.
»Danke schön«‚ seufztest du und schlossest die Augen.
324ff
Titowka, September 1944
…
Ich starre den Deckenbalken an, und er wirkt ebenso morsch wie der im Hause Näkkälä, der zu jener anderen Welt gehört. Zu der, in der ich unberührt und stark war und W0 der Krieg keine Gewalt über mich bekam. Über der Pritsche in der Operation Kuhstall dreht sich langsam, langsam um sich selbst das Himmeli. Ich warte darauf, dass dreckige Stiefel neben meinem Bett stehen bleiben.
Mein Gott, wenn ich diesen Mann bekomme, dann verlange ich keinen anderen.
Ich habe bekommen, was ich wollte. Jetzt wird mir die Rechnung präsentiert.
Ich kann nicht anders als denken, dass dies die von Gott für mich vorgesehene Prüfung ist und dass dies alles einen Sinn haben muss. Sonst kann ich es nicht verstehen. Warum ist es mir so ergangen? Ich habe doch so gehandelt, wie es richtig war. Ich gehörte zu den Frauen, die ihren Hemdkragen immer bis zum obersten Loch zuknöpften und ihre Kleiderärmel einzig in erstickend heißen Kantinennächten vorschriftsmäßig nur bis zur Ellenbogenbeuge hochkrempelten. Ich bin kein Haariges Weidenröschen und keine Sumpfblüte, niemandes Schwanzbürste oder Lieblingsarsch, kein Wachstrichterling oder Blätterpilz, kein Hungerhappen und nicht der Leierkasten für die Jungs von der Feuerwehr, keine Miederklopferin oder Mietdroschkenhure, keine Steckdose, kein Soldatentrost und keine Spritztasse. Keine Entsafterin, keine Wackelsuse und keine Lapplandzulage, kein Passierschein‚ keine Visitenkarte, kein Tor zu Lappland. Das alles bin ich nicht.
Warum ist es mir dann so ergangen?
Weil ich mich in dich verliebt habe.
Wo bist du, mein Geliebter? Ist es schon Abend? Liegst du auf dem Dach und zählst die Sterne, oder gräbst du an deinem ewigen Schwimmbecken, von dem jeder weiß, womit es gefüllt wird?
Ich weiß noch, wie Aune Näkkälä mich warnte: »Ich helf dir. Ich geb meiner Tochter Brechwurzel‚ und eine Woche später kommt sie zu dir und bittet dich um Hilfe. Aber dann is Gott nich mehr auf deiner Seite, verstehst du? Dann bist du dem Krieg genauso ausgeliefert wie wir anderen.«
Das glaubte ich nicht. Wie könnte mir, einem Gotteskind, irgendwas Irdisches etwas anhaben?
»Ich helf dir, wenn du willst. Aber das war’s dann. Mehr Hilfe kriegst du nich von mir. Du treibst Lispets Kind ab und kriegst ]ohannes«, schwor Aune. »Du kannst das machen, und nach dem Krieg wird dich niemand verfolgen.« Ich tat, wie mir geheißen, und tötete dein Kind in Lispet Näkkälä.
Ich liege auf dem Pritschenbett und sehe dem Himmeli zu. Wenn ich diesen Mann kriege, will ich nichts anderes mehr. Ich bekam die Wollust, und ich bekam deine Liebe. Ich durfte unter diesem Himmel besprungen werden in jeder Stellung, von allen Seiten, habe gekeucht und mein Verlangen in den Weltraum hinausgeschrien. Habe dich in Hülle und Fülle bekommen. Aber erst jetzt habe ich gelernt, dass mich am Ende des Schwanzes nicht die Liebe erwartet, sondern Müdigkeit, Schmerz, verschiedene Entzündungskrankheiten, vom Morgen geläuterte Sehnsucht und ewige Schande.
Der Krieg hat Macht über mich bekommen.

Karl Ove Knausgard
Im Herbst
273ff
Stille
Es gehört zu den Eigenschaften von Sprache, dass sie benennen kann, was nicht hier ist. So können wir alles vergegenwärtigen, was in unserer Lebenswelt außer Sichtweite ist, und darüber hinaus alles, was sich jenseits
unseres Zeithorizonts befindet, was gestern war genauso wie das, was morgen sein wird. Auch wenn es den kleinen Höhenzug, der sich dort, wo ich sitze, knapp außerhalb meiner Sichtweite befindet, selbstverständlich immer gibt, ist seine Existenz, die ich soeben heraufbeschworen habe, nicht nur mit dem Hypothetischen, sondern auch mit dem Imaginären verwandt. Du, der du diese Zeilen liest, kannst nicht wissen, ob es diesen kleinen Höhenzug tatsächlich gibt, obgleich du ihn nun vor dir siehst, und du kannst ebenso wenig wissen, ob ich, der ich dies schreibe, existiere - vielleicht liest du diese Worte ja viele Jahre, nachdem sie geschrieben wurden, und ich bin inzwischen tot. Diese gewaltige Expansion unserer Lebenswelt, die durch Sprache geschieht und in ihr aufrechterhalten wird, ist das vielleicht wichtigste Kennzeichen des Menschlichen. Ohne Sprache würde die Welt zuwuchern:
Jedes einzelne Wort ist wie eine kleine Lichtung. Dies ist aber auch trügerisch, weil das, was es nicht gibt - ich denke nicht an das Erfundene, das Hypothetische oder Imaginäre, sondern an den Gegensatz des Seins, das
Nicht-Sein -, einen so unmöglichen Status in der Sprache bekommt, da es das, was nicht ist, allein dadurch zu etwas macht, indem es benannt wird. "Nichts", das ist das, was nicht existiert und nichts ist, aber schreiben oder sagen wir es, existiert es und ist etwas: nichts. Stille ist ein solches Wort, es bezeichnet die Abwesenheit von Geräuschen und nichts an sich. Doch auf diese letzte Konsequenz des Worts gehen wir selten ein, stattdessen benutzen wir es, um Geräusche einzustufen, und verbinden es mit Ruhe und Entspannung - hier ist alles so friedlich und still, sagen wir, wenn wir zum Sommerhaus auf dem
Land kommen und der Verkehrslärm verschwunden ist, oder wenn wir uns im Wald hinsetzen und alle Geräusche des nicht zu stoppenden menschlichen Tatendrangs aufgehört haben. Daraufhin hören wir das Singen der Vögel
und die Bewegungen der Bäume im Wind, von uns die Stille des Waldes genannt. Geschieht dies an einem windstillen Tag im Winter, ist nicht einmal das zu hören. Diese Stille macht etwas mit der Landschaft, und dadurch auch
mit uns. Alle Geräusche sind mit dem Augenblick verbunden, sie gehören der Gegenwart an, dem, was sich verändert, wohingegen die Stille mit dem Unveränderlichen verbunden ist, in dem es keine Zeit gibt. Das ist die Ewigkeit, aber auch das Nichts, das sind zwei Seiten derselben Sache. Was das heißt, begriff ich schlagartig, als ich den Film Shoa sah, in dem es um die Vernichtung der Juden geht. Ein Eisenbahnbeamter erzählte, eines Nachmittags habe sich der Bahnhof mit Waggons gefüllt, die voller deportierter Juden gewesen seien, Kinder, Erwachsene und Alte, und das ganze Gelände habe an jenem Abend von ihren Geräuschen widergehallt. Welche Geräusche das waren, berichtete er nicht, aber ich nehme an, dass es sich um das Heulen von Kindern, Männer- und Frauenstimmen, Schritte, Rufe, das Klirren von Tellern, vielleicht sogar um Lachen handelte. Als er am nächsten Morgen in der Früh zur Arbeit radelte, standen die Waggons noch da, doch nun war alles still. Kein Ton war zu hören. Erst als ich von dieser Stille hörte, begriff ich, was der Holocaust bedeutete, eine Erkenntnis, die nur ein paar Sekunden währte, ehe sie schon wieder verschwand. So viel vom Leben und Lebendigen kreist um
Geräusche, von den laufenden Füßen der Kinder, die auf dem Fußboden hämmern, und ihren Tränen und Freudenschreien, bis zu ihren regelmäßigen Atemzügen in der Nacht. Die Literatur über das Leben und das Lebendige
ist dagegen enger mit dem Nichts und dem Leblosen verbunden, der Nacht und der Stille, als wir gemeinhin denken. Buchstaben sind nichts als tote Zeichen und Bücher ihre Särge. Nicht ein Ton ist aus diesem Text gedrungen,
als du ihn gelesen hast.

Lauren Groff
Die weite Wildnis
40ff
Nun, selbst wenn sie den Fuß auf so dünnes Eis setzte, dass sie einbrach und in die kalten Fluten hinabgezogen wurde, so war das Ertrinken immerhin ein freundlicherer Tod als die meisten anderen, das hatte ihr ein Seemann bei der Fahrt über den Ozean erzählt. Zwar durchlebe man zuerst einen Moment panischer Angst und schlage wild mit allen Gliedern, hatte er erklärt, während er ein Seil um seinen mit Rosen tätowierten Arm wickelte, doch dann stehle die Kälte dem Körper sämtlichen Antrieb, und die Lungen füllten sich mit Wasser, und wenn auch das Ersticken im ersten Moment schmerzhaft sei, überkomme einen die Stille und man halte kurz inne, bevor das Leben allmählich von einem weiche und die Seele der Sonne entgegenschwebe.
Und sie hatte ihm geglaubt, denn er hatte all das von einem Manne gehört, der während eines Sturmes auf der Nordsee über Bord gegangen und ertrunken und erst wieder zum Leben erwacht war, als sie ihm hundertmal die Beine in den Bauch gestoßen und mit einem Blasebalg Luft ins Rektum gepumpt hatten, bis das Wasser aus ihm herausschoss und die Luft wieder Einlass fand.
Und das Mädchen fand sie gar nicht betrüblich, diese Vorstellung vom Fluss, der ihren leblosen Körper mal sanft und mal unsanft unterm Eis bis in die große Bucht trug, wo ihn die größeren, gefährlicheren Fische finden und sich einverleiben würden, so wie sie sich den Fisch einverleibt hatte, der jetzt in ihrem Gedärm zappelte. Diese riesigen Fische würden ihr genüsslich das Fleisch von den Knochen zupfen, die Köpfe in ihre Eingeweide stoßen und ihre Wirbel einen nach dem anderen aus den Mäulern fallen lassen, sodass sie auf ewig im Schlamm am Grunde der Bucht begraben lägen. Die Fische waren ihr lieber als das Gewürm in der Erde, denn Fische waren eine höhere Lebensform. Und es läge Poesie in diesem Fortgang: Fisch zu Mädchen, Mädchen zu Fisch. Vielleicht war die große Stufenleiter der Natur gar keine Leiter, sondern vielmehr ein Ring, in dem ein Leben nicht dort endete, wo das andere begann, sondern alle Seelen einander überlappten.
...
Das Mädchen wagte einen Schritt aufs Eis. Der Fluss lag fahl und schier endlos vor ihr, und ihre Angst ließ ihn noch breiter erscheinen. Einen Fuß vorsichtig ausgestreckt, aufgesetzt, dann den nächsten. Sie lauschte, ob irgendetwas knackte, spürte nach, ob irgendetwas nachgab. Doch schon bald durchzuckte sie die Angst und rüttelte an ihr, und sie schlurfte zügiger voran und begann bald zu rennen.
Und jetzt sah sie sich selbst wie so oft in besonderen Momenten aus der Luft, als wäre sie ein schwebender Vogel oder der Mond selbst. Sie sah sich als schwarzes, krauchendes Etwas auf der grünlichen Eisfläche, und die Schneekristalle fingen das Mondlicht ein und warfen es als glitzernde Scherben zurück.
Einmal spürte sie, wie der Absatz ihres linken Stiefels das dünne Eis durchbrach und das Flusswasser darunter berührte, doch sie war schon in der Luft und kurz vor dem nächsten Schritt, und dieser nächste landete auf festem Eis, und sie rannte noch schneller in dem Wissen, wie knapp sie gerade dem Einbrechen entkommen war, sie flog, als wären die Hatz und die Angst uhre Segel.
Schließlich spürte sie die Kiesel des anderen Ufers unter ihren Füßen und dann festen Stein, und sie gestattete sich einen Moment keuchenden Innehaltens. Sie schlang die Arme um den ersten Baum, den sie sah, schmiegte das Gesicht an seine Rinde und lachte. Sie hatte den tückischen Fluss zwischen sich und die Dunkelheit gebracht, vor der sie geflohen war, und sie lachte, weil sie immer noch ganz und gar am Leben war.
Der Baum in ihren Armen duftete süß und moschusartig und nach dem Saft, der sich tief in seinen Ringen regte, denn der Baum wusste, dass der Frühling nahte und aus diesem weißen Schlaf schon bald das Grün neuen Lebens erwachsen würde.
Und sie würde noch gar nicht weit entfernt sein, wenn die weiße Eisdecke plötzlich einen Riss bekam.
Sie würde das Eis nicht brechen sehen, nur hören, auf ihrem Weg durch den Wald würde sie vor dem Poltern und Krachen der Schollen erschrecken. Sie würde sich eine Lawine vorstellen, bei einem Felsrutsch in eine Schlucht stürzende Steinbrocken, vielleicht sogar den Donner eines Gewitters, das unsichtbar in den Wolken wütete.
Sie tastete sich jetzt vorsichtig das nachtdunkle Ufer entlang und in den Wald und blieb eine Weile inmitten der Bäume stehen, um einfach nur zu lauschen, und sie hob das Gesicht, denn der Wind trug den Hauch eines vertrauten Geruchs mit sich.
...

Markus Zusak
Die Bücherdiebin
172ff
DIE ARISCHE LADENBESITZERIN
Sie standen vor Frau Lindners Eckladen an die weiß getünchte Wand gelehnt.
In Liesel Memingers Mund steckte ein Bonbon.
In ihren Augen stand die Sonne.
Trotz dieser Hindernisse war sie dennoch in der Lage zu sprechen und zu streiten.
NOCH EIN GESPRÄCH ZWISCHEN RUDI UND LIESEL
»Mach schon, Saumensch, das waren schon zehn Mal.«
»Stimmt nicht, es waren erst acht – ich hab noch zwei.«
»Na, dann beeil dich gefälligst. Ich sag’s ja, wir hätten ein
Messer holen und es in zwei Hälften sägen sollen. – Komm
schon, das waren jetzt noch zwei Mal! «
»Also gut. Hier. Und schluck’s bloß nicht runter! «
(Eine kurze Pause.)
»Das ist klasse, was? «
»Darauf kannst du wetten, Saumensch.«
Sowohl der August als auch der Sommer gingen bald zu Ende, da fanden sie einen Pfennig auf dem Boden. Helle Aufregung.
Er steckte halb verottet im Dreck, auf dem Weg, den Liesel mit der Wäsche ging. Eine einsame, verrostete Münze.
»Schau dir das an!«
Rudi stürzte sich darauf. Die Erregung stach in ihrem Innern, während sie zu Frau Lindners Laden zurücksausten. Sie verschendeten keinen Gedanken daran, dass sie mit einem Pfennig nicht besonders weit kommen würden. Sie stolperten durch die Tür und standen vor der arischen Ladenbesitzerin, die voller Verachtung auf sie niederblickte.
»Ich warte«, sagte sie. Ihr Haar war straff zurückgekämmt, und ihr schwarzes Kleid würgte ihren Körper. Von der Wand aus hielt das gerahmte Foto des Führers Wache.
»Heil Hitler«, sagte Rudi.
»Heil Hitler«, erwiderte sie und richtete sich hinter der Theke zu voller Größe auf. »Und du?« Sie funkelte Liesel an, die mit einem prompten »Heil Hitler« reagierte.
In Windeseile fischte Rudi die Münze aus der Hosentasche und legte sie entschlossen auf die Theke. Er schaute geradewegs in Frau Lindners bebrillte Augen und sagte: »Gemischte Bonbons bitte.«
Lindner lächelte. Ihre Zähne drängelten in ihrem Mund, um Platz zu finden, und ihre unerwartete Freundlichkeit brachte auch Liesel und Rudi zum lächeln. Aber es währte nicht lange.
Frau Lindner bückte sich, kramte einen Moment lang herum und tauchte dann wieder hinter der Theke auf. »Hier«, sagte sie und warf ein einzelnes Bonbon auf die Theke. »Mischen könnt ihr es selbst.«
Draußen wickelten sie das Bonbon aus und versuchten, es in zwei Hälften zu beißen, aber der Zucker war so hart wie Glas. Er war sogar zu hart für Rudis Reißzähne. Stattdessen mussten sie das Bonbon in Lutschportionen aufteilen. Zehn Mal Lutschen für Rudi, zehn Mal für Liesel. Hin und her, bis das Bonbon verschwunden war.
»So«, verkündete Rudi irgendwann mit einem bonbonverschmierten Lächeln, »gefällt mir das Leben.« Liesel konnte ihm nur zustimmen. Als sie fertig waren, leuchteten ihre Münder feuerrot, und auf dem Heimweg schärften sie sich gegenseitig ein, nach weiteren verlorenen Münzen Ausschau zu halten.
Natürlich fanden sie nichts mehr. Niemand kann zwei Mal in einem Jahr so viel Glück haben, geschweige denn zwei Mal an einem Nachmittag.
Trotzdem spazierten sie mit roten Zungen und roten Zähnen über die Himmelstraße und suchten voller Glück den Boden ab.
Der Tag war großartig gewesen, und Deutschland war ein wundersamer Ort.

Marlen Haushofer
Die Wand
119f
Am Abend, als ich vom Haus zum Stall ging, hatte sich der Himmel bezogen, und es schien mir wärmer geworden zu sein. In der Nacht schlief ich trotz meiner Müdigkeit sehr schlecht, aber es störte mich nicht. Ich lag ganz zufrieden, lang ausgestreckt, und wartete. Einmal kam mir der Gedanke, daß es doch eine große Verschwendung sei, überhaupt zu schlafen. Gegen Morgen kam die Katze heim, schmiegte sich in meine Kniekehlen und fing an zu schnurren. Es war behaglich und warm, und ich brauchte keinen Schlaf. Aber schließlich mußte ich doch eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, war es spät, und Luchs verlangte stürmisch ins Freie. Es regnete, und nach der langen Trockenheit war ich ganz zufrieden damit. Der Bach hatte fast kein Wasser mehr geführt, und die Forellen waren in großer Not. Der Regen hing als grauer Schleier über dem Wald und verdichtete sich höher oben zu Nebel. Es war wärmer als an den schönen Tagen, aber alles glänzte vor Nässe. Ich wußte, dieser Regen bedeutete das Ende der Herbstes. Er leitete den Winter ein, die lange Zeit, vor der ich Angst hatte. Ich ging langsam ins Haus zurück, um einzuheizen.

Marten't Haart
Das Wüten der ganzen Welt
228f
…
»Wenn es einen nassen Kuß gibt, muß es auch einen trockenen Kuß geben«, sagte ich.
»Ja, man kann auch trockener Kuß sagen. Sie gaben sich einen trockenen Kuß, ja, das kann man sagen… aber siehst du jetzt, daß du wieder damit anfängst… die ganze Zeit redest du nur vom Küssen… Würdest du mich… meinst du, daß du mich, wenn ich nicht verlobt wäre, daß du mich dann küssen würdest?«
»Ich würde gern wissen wollen, ob es schön ist, dieses Küssen, ich kann es fast nicht glauben, es kommt mir eigentlich ziemlich klebrig und ekelhaft vor.«
»Ekelhaft ist es nun überhaupt nicht!«
»Also, ich glaube nicht, daß ich es schön fände.«
»O doch, bestimmt, oh, ich wollte, daß Herman hier wäre, dann würden wir uns küssen, bis uns die Lippen weh täten.«
»Wenn zwei Menschen ihre Stirnen aneinanderlegen oder ihre Nasen oder ihre Zeigefinger, dann gibt es dafür kein Wort, aber wenn sie ihre Lippen aufeinanderlegen, sehr wohl. Irgendwie merkwürdig, findest du nicht? Lippen aufeinander: Das nennen sie einen Kuß. Als wäre es etwas. Aber Stirnen aneinander, dafür gibt es kein Wort, das ist also nichts. Ich finde es merkwürdig. «
»Überhaupt nicht merkwürdig, wenn du küssen würdest, dann wüßtest du das… Ich würde es dir gern ein bißchen beibringen, aber wenn man verlobt ist, darf man sich nicht mit einem andern küssen.«
»Nee, das darf man nicht«, sagte ich.
»Darf man nicht«, seufzte sie. Sie stand auf, sie nieste ein paarmal, schimpfte dann: » Ich erkälte mich noch.« Sie lief zu unseren Fahrrädern und sagte: »Laß uns nach Hause fahren, es ist schon so spät.«

Martin Walser
Schau in die Wolken, dort lebt immer ein Text, den es nicht gibt, den musst Du finden
Die Zeit, Ausgabe 30, 2022 - Worauf freuen Sie sich nach dem Tod?
Ich sähe mich gern anders, als ich bin, werde dadurch aber nicht so, wie ich mich gern sähe. Weich sein, reich sein, gleich sein.
Jeder Tag ist ein Gedicht, das wir aus Unachtsamkeit nicht lesen. Geschichte tobt. Es übt ein Klavier. Wir hängen zum Trocknen im Wind und klingen, solang die Hände noch beten. Dass ich mich nicht mehr berühren lasse, was der Welt gerade am meisten wehtut. Dunkel läuten die Stachelbeeren den Spätsommer ein. Immer Lessing im Mund. Der hat gesagt, wenn Gott ihm etwas zuteilen könne, dann nicht die Wahrheit, sondern das Suchen danach.
Zeichnen, graben, verschwinden, keine Hoffnung züchten. Lieblos bleiben bei Lebzeiten. Und sich nicht auskennen wollen, das wäre mein Ideal.
Es dunkelt jetzt, wird eng im Jahr. Du kannst Dir nichts mehr denken. Fast alles, was im Garten sein kann, ist geschehen. Schau in die Wolken, dort lebt immer ein Text, den es nicht gibt, den musst Du finden.
TRAUM
Eine Frau gebiert Kinder, die Krawatten tragen. Die kommen mit Krawatten auf die Welt. Ich bin einen Augenblick lang glücklich, dass ich das nur geträumt habe. Die Idee ist also noch zu benützen. Bei Tagesanbruch dann aber doch nicht.
Wohin soll ich mich drehen, dass etwas ins Vorstellungsfeld geriete, was mir helfen könnte? Die Widerlegung alles bisher Erfahrenen erwarte ich. Die Erlösung.
Rinn herab, quälende Schmiere, füll mir die Augen mit Brand, es kann nichts Falsches geschehen, es gibt das Richtige nicht.
Ich kann mich nicht wegwenden von mir, solange ich so schwach bin. Der Verlierer ist unersättlich mit sich selbst beschäftigt. Der Sieger wendet sich neuen Aufgaben zu.
Im Garten wartet mein Freund Salbei, wartet meine Freundin Melisse auf mich, wenn mir nach Menschheit ist, habe ich Gras, und das Gespräch gewähren mir Katze und Hund.
Wir haben alle Angst voreinander. Und die keine Angst haben, sollte man fortschicken, dass sie das Fürchten lernen.
Hart geworden, splittern unsere Zungen, wenn sie beten müssten. Aus den Augen strömen Schmutz und Asche, Unglücksvulkane sind wir.
Draußen tost der Wind ums Haus, dass wir tot sind, weiß er nicht. Die Erde sättigt sich an unseren Schriften, aber lesen kann sie sie nicht.
Die Müdigkeit meint's gut mit mir, betäubt gleite ich durch meine Verhängnisse, der Erdball voller Schmerz stürzt mutlos durchs Blau meiner Benommenheit.
Ich komme nicht mehr dazu, an meinen Tod zu denken, aber mein Tod denkt ja an mich.
Ich bin schon ein Freund der Wurzeln, der Katze fahre ich endlos durchs Fell und lass mir ihre kleinen Knochen begegnen, aber am Abend starr ich ratlos ins Dunkel. Dann renn ich zum Retter Wein.
Ach Dichten und Lachen sind eins, aber stumm auf Steine beißen ist Deins. Ist doch taub, Dein Geschick, und todmüde liegt Dein Lachen Dir im Mund.
Leider ist die Zeit vorbei, wir haben nicht mehr hitzefrei, wir sind jetzt kalt und arm und fluchen uns warm.
Ich dämmere im Licht, der Tag sieht mich, ich ihn nicht. Ich bin geborgen. Schwäche schützt. Weitab liege ich. Abgeblitzt.
Mich verbergen in mir, die Sprache wechseln, dass ich mich nicht mehr verstehe.
Ich träume, und zwar so: Eine zuerst sehr Schöne, als die ausgezogen war, standen ihre Hüften so eckig vor, dass sie fast wie eine Wiederholung der ebenfalls wegstehenden Ohren aussahen. Ich fühlte mich von ihr nicht oder zu wenig beachtet. Das Mädchen war eine Chemikerin. Sachen zusammenschütten, das sei ihr Beruf, von einem Gläschen ins andere.
Sie kann so viel, was sie nicht gelernt hat. Ich kann nur, was ich gelernt habe. Sie ist eine Chefin, keine Frau und auch kein Mann. Sie macht einen gern mit Nachrichten bekannt, die wehtun. Sie transportiert Scheußlichkeiten, als wären sie süße Erfolgsmeldungen. Also muss man sich für den Schmerz, den sie einem zufügt, auch noch herzlich bedanken.
Mein Ehrgeiz: an meinem hundertsten Geburtstag an meinem Geburtshaus eine Gedenktafel zu enthüllen beziehungsweise an dieser Enthüllung teilzunehmen. Ich spiele mit der Angabe des Namens meiner Geburtsstadt. Es sollen sich mal mehrere Städte darum streiten, meine Geburtsstadt zu sein.
Wenn mich jemand Literaturpapst nennt, lächle ich und sage: Ein Papst kann höchstens ein Stellvertreter auf Erden sein. Wieso halten Sie mich für einen Stellvertreter?
Glaubt keinem, der über das Altwerden und Altsein spricht. Er lügt. Keiner kann die Wahrheit sagen über das Altwerden und das Altsein: Sie ist zu scheußlich. Je älter man wird, desto mehr muss man lügen.
Es ist ganz deutlich, dass jeder Jüngere einen 65-Jährigen für sehr alt hält. Man ist sehr alt, das stimmt. Aber man hat keine anderen Wünsche als ein 20 Jahre Jüngerer. Man muss so tun, als sei man 65.
Die Kraft, diesen Tag nicht so wichtig werden zu lassen, nimmt ab, mit jeder Gratulation. Am Schluss gibt man zu, dass man 65 ist. Das ist der Sinn von allen diesen Bekundungen: die Kapitulation zu erzwingen.
Es ist gewesen.
Das und das.
Sein wird.
Nichts.
Es lebe die Niegewesenheit.
Ich weiß nicht, wie das ist, 65 sein. Ich bin auch mit 40 dagesessen und konnte nichts anderes tun, als die schwindende Existenz zu protokollieren.
Das Höchste, was ich erreichen kann: einem Feind sagen, dass ich mich nicht für ihn interessiere.
Zwischen meinen Zehen wächst der Tod, meine Lippen verkaufe ich gern als Mund, Botschaften flattern gesprayt daher. Viel zu viel Klarheit für den, der erlischt.
Unglücklich sein, und nicht mehr wissen, warum, die menschenwürdigste Form des Unglücklichseins. Das reine Unglück.
Abschied auf jeder Seite,
jede Bewegung Flucht,
Fluch aller Weite,
gesucht wird die Schlucht.
Am Anfang ist jeder ein reicher Bettler. Am Ende ein armer Fürst, der durch Hallen tanzt mit seinem Partner Tod.
Wenn ich aufwache, und es tut mir überhaupt nichts weh, wie soll ich mich dann damit abfinden, dass ich nicht 30 und nicht 40 und nicht 50 bin, ja dass ich nicht einmal 60 oder 65 bin, wie soll ich mir das beibringen?
Jetzt sagen wir wieder NUN statt JETZT.
Gestern vor Mitternacht ein kurzer Erdstoß. Broch, Tod des Vergil fiel aus dem Regal.
Wenn das Leben nicht mehr tobt, warum soll man dann noch leben?
Allein genügt im Raum, Erkältungswahn und Purzelbaum, ich denke an den Lebensquell, mein totes Hirn döst grell.
In der Klinik Abendfrieden, in Kreuzlingen kann man sterben. Dafür ist die junge Frau ausgebildet.
Vielleicht will man, wie man stirbt, sie beeindrucken. Man tut so, als sei es gar nicht so schlimm. Und sie tut auch so. Dann ist wieder Schluss. Sie geht ein Zimmer weiter.
Im Garten wartet mein Freund Salbei, wartet meine Freundin Melisse auf mich, wenn mir nach Menschheit ist, hab ich mich, und das Gespräch gewähren mir Katze und Hund.
Das Leben ist immer gleich weit vom Tod entfernt, es gibt keine Annäherung.
Wir sind ein Geschmier und kennen den Schmierer nicht. Die meisten nennen ihn Gott.
Mich verbergen, in mir die Sprache wechseln, dass ich mich nicht mehr verstehe.
Wie konnte man tändeln, allem entgegensehend, Zeit, eine Ahnung, die nichts wog.
Wie konnte man tändeln damals am Ufer der Gewissheit, die's nicht gab.
Allmählich kann ich mir vorstellen, wie Hölderlin in den letzten 40 Jahren lebte.
Der Neid ist die höchste Form der Bewunderung. Ich bin ausgelaufen, danach vertrocknet, hat mich jemand aufgewischt, war's Gott.

Max Frisch
Montauk
26ff
ERYNNIEN
sie zerreißen dich nicht, sie stehen nur an irgendeiner Ecke: Hier oben, im dritten Stock, hast du einmal gewohnt, WAVERLY PLAGE / CHRISTOPHER STREET, vor dreiundzwanzig Jahren. Als wüßte ich’s nicht! Ich blicke nicht einmal an die Fassade hinauf, sehe bloß, daß im Parterre ein andrer Laden ist; damals ein Lebensmittelgeschäft, ein lausiges, ich verfügte über 200 Dollar im Monat, die Wohnung kostete 100 Dollar im Monat, einmal fiel mir ein Blumentopf vom Fenstersims und traf niemanden.
Wo werden die Erynnien mich packen?
Neuerdings haben wir ein Kennwort dafür: Anfälle. Jedesmal ein Schrecken für sie, ich weiß, und vollkommen unverständlich. Dabei kommt es zu keiner körperlichen Bedrohung des Partners; sie irrt sich, wenn sie das fürchtet; nicht die mindeste Versuchung dazu. Wenn Tätlichkeit, dann wäre es Tätlichkeit gegen mich selbst: um mich auszudrücken. Ich meine zu verstehen, zu denken, zu erkennen; das allerdings ohne Rücksicht, im Beginn fast gelassen, ohne Rücksicht auf mich oder irgendwen. Ich schreie nicht, im Beginn jedenfalls nicht; allerdings werde ich dann unansprechbar, auch wenn ich eine Weile lang zuhöre. Die Wahrheit, die ich auszudrücken versuche, die ich in diesem Augenblick erkenne, ist selten ein Freispruch für mich. Es kann von Lappalien ausgehen; geradezu lächerlich, eine solche Lappalie überhaupt zu erwähnen. Ich sehe sie als Zeichen, daher nicht als Lappalie; als Zeichen so eindeutig für mich, daß ich jede andere Auslegung kaum ertrage, eine harmlose schon gar nicht. Keine Vorwürfe, nein, ich rede nur von Erkenntnissen. So kommt es mir vor. Im Augenblick ohne jede Angst vor den Konsequenzen, die ich sehe. Meine Rede (Monolog) hat etwas Hinrichtendes; nicht aus Haß. Was soll der Partner? Er soll verstehen, was ich nicht auszudrücken vermag; er soll einverstanden sein. Ich ertrage mich nicht. Ich kann dann nicht aufwachen, wie man aus Träumen, wenn sie unerträglich sind, aufwachen kann. Wie ich’s in diesem Augenblick sehe, so ist es eben, wirklich und so und nicht anders, und ich fühle mich bereit. Wozu? Dann wiederhole ich mich, ich weiß. Kein Zurück in die Vernunft; die Vernünftigkeit verletzt mich, sie erniedrigt mich, sie entfesselt auch noch den Zorn. Dabei habe ich so gelassen begonnen; was ich gemeint habe, ist kein Vorwurf, es ist wichtiger: WAHRHEIT, meine. Wenn ich mir das Hemd zerreiße, so meine ich meine Haut. Ich bitte; offenbar tönt es ganz anders; ich flehe. Dabei ist alles, was ich jetzt sage, nur noch verletzend. Es fällt mir anders nicht ein. In diesem Augenblick möchte ich sterben dafür, daß ich mich ein Mal verständlich machen könnte, ohne Forderung. Nachher finde ich es schade um meinen Zorn; nie hat er den Gordischen Knoten getroffen – ich habe mich auch noch zu entschuldigen.
Tagebuch 1946-1949
36f
Zur Schriftstellerei
Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, läßt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.
Unser Streben geht vermutlich dahin, alles auszusprechen, was sagbar ist; die Sprache ist wie ein Meißel, der alles weghaut, was nicht Geheimnis ist, und alles Sagen bedeutet ein Entfernen. Es dürfte uns insofern nicht erschrecken, daß alles, was einmal zum Wort wird, einer gewissen Leere anheimfällt. Man sagt, was nicht das Leben ist. Man sagt es um des Lebens willen. Wie der Bildhauer, wenn er den Meißel führt, arbeitet die Sprache, indem sie die Leere, das Sagbare, vortreibt gegen das Geheimnis, gegen das Lebendige. Immer besteht die Gefahr, daß man das Geheimnis zerschlägt, und ebenso die andere Gefahr, daß man vorzeitig aufhört, daß man es einen Klumpen sein läßt, daß man das Geheimnis nicht stellt, nicht faßt, nicht befreit von allem, was immer noch sagbar wäre, kurzum, daß man nicht vordringt zu seiner letzten Oberfläche.
Diese Oberfläche alles letztlich Sagbaren, die eins sein müßte mit der Oberfläche des Geheimnisses, diese stofflose Oberfläche, die es nur für den Geist gibt und nicht in der Natur, wo es auch keine Linie gibt zwischen Berg und Himmel, vielleicht ist es das, was man die Form nennt? Eine Art von tönender Grenze -.

Nino Haratischwili
Das mangelnde Licht
72
…
Ja, Babuda eins hatte durchaus recht, wenn sie behauptete, Oliko gleiche einem Schmetterling, der herumflattere, und zwar schön, aber zugleich vollkommen unbeständig sei. Und manchmal erlosch ihr Interesse genauso schnell, wie es aufgeflammt war, und natürlich wurden die meisten ihrer Pläne und Vorhaben nicht umgesetzt, etwas, das Eter zutiefst suspekt war, denn sie war eine Frau der Gründlichkeit, aber für Oliko kam es darauf gar nicht an.
Wenn ich heute darüber nachdenke, fällt mir kaum ein anderer Mensch ein, der diese uneingeschränkte Fähigkeit zum Glücklichsein besessen hat. Und dass das Leben ihr gegenüber so mit dem Glück geizte, erscheint mir ebenso ungerecht wie dumm. Denn das Leben sollte demjenigen, der es jeden Tag zu feiern bereit ist, entgegenkommen, sollte mit ihm einen lebenslangen Tanz tanzen. Aber wie so oft war es dem Leben egal, mit welchen Erwartungen wir an es herantreten, aber vor allem war es in Olikos Fall zunächst einmal den Bolschewiken egal.
...

Paul Theroux
Der alte Patagonien-Express
19
…
Was mich interessiert, ist das Aufwachen am Morgen, das Vorrücken vom Vertrauten über das Seltsame und das Fremdartige zum völlig Unbekannten und schließlich Exotischen. Es kommt auf die Reise an und nicht auf die Ankunft; die Passage zählt, nicht die Landung. Weil ich mich von anderen Reisebüchern darum betrogen fühlte und mich fragte, was es eigentlich war, was man mir vorenthalten hatte, wollte ich meinen eigenen Weg ins Reise- buchland ausprobieren, so weit nach Süden fahren, wie es von Medford, Massachusetts, mit Zügen möglich ist, und mein Buch da beenden, wo andere Reisebücher anfangen.
Ich hatte nichts Besseres zu tun. In meinem Leben als Schriftsteller war ich an einem mir inzwischen vertrauten Punkt angekommen: Ich hatte gerade einen Roman beendet, also zwei Jahre Arbeit in geschlossenen Räumen hinter mir. Während ich noch nach einem neuen Thema suchte, fiel mir auf, daß ich, statt Nägel auf die Köpfe zu treffen, nur serienweise Schläge ins Leere vollführte. Ich kann Kälte nicht ausstehen, ich wollte ein bißchen Sonne. Ich hatte keinen festen Beruf: mich hielt nichts. Ich nahm mir meine Landkarten vor und fand eine Strecke, die offenbar ohne Unterbrechung vom Haus meiner Eltern in Medford bis zur Hochebene von Patagonien im Süden Argentiniens verlief. Dort, in der Stadt Esquel, war dann Schluß mit den Eisenbahnen. Nach Tierra del Fuego gab es keine Züge, aber zwischen Medford und Esquel ziemlich viele.
In dieser wanderlustigen Stimmung bestieg ich den ersten Zug, den, der die Leute zur Arbeit brachte. Sie stiegen aus - ihre Zugreise war schon zu Ende. Ich blieb drin - meine fing gerade an.
...

Per Petterson
Pferde stehlen
S. 76f
Was ich tue und was ich noch keinem Menschen erzählt habe, ist, daß ich jedesmal, wenn ich etwas Handwerkliches machen muß, das über das täglich Notwendige hinausgeht, die Augen schließe und mir vorstelle, wie mein Vater es gemacht hätte oder wie er es tatsächlich gemacht hat, wenn ich zugesehen habe, und dann ahme ich es nach, bis ich den richtigen Rhythmus finde, und die Aufgabe öffnet sich und wird sichtbar. Soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich das getan, als läge das Geheimnis in der Haltung des Körpers zu dem, was gemacht werden soll, im Balancieren des Ausgangspunkts, als wolle man beim Weitsprung exakt vorn Brett abspringen, in der ruhigen Berechnung, die dem Start voraus- geht, wie viel noch fehlt oder wie wenig, und in der inneren Mechanik, die jeder Aufgabe innewohnt: zuerst das eine, dann das andere, innerhalb eines Zusammenhangs, der in jedem Stück Arbeit liegt, ja, als gäbe es die Arbeit bereits als fertige Form, und als müßte der sich bewegende Körper nur den Schleier lüften, damit alles vom Betrachter gelesen werden kann. Und der Betrachter bin ich, und der, den ich vor mir sehe, und dessen Bewegungen ich lese, ist ein Mann von knapp vierzig Jahren‚ der mein Vater war, als ich ihn zum letzten Mal sah, als ich fünfzehn war und er für immer aus meinem Leben verschwand. Für mich ist er nie älter geworden.
Doch das dem freundlichen Mechaniker zu erklären, ist nicht leicht, deshalb sage ich nur:
»Ich hatte einen handwerklich geschickten Vater. Ich habe viel von ihm gelernt.«
»Väter sind was Gutes«, sagt er. »Mein Vater war Lehrer. In Oslo. Von ihm habe ich Bücherlesen gelernt, sonst wohl nicht so richtig viel. Praktisch veranlagt war er nicht, das kann man nicht sagen. Aber er war ein feiner Mann. Wir konnten immer miteinander reden. Er ist vor vierzehn Tagen gestorben.«
»Das wußte ich nicht«, sage ich. »Das tut mir leid.«
»Das konnten Sie auch nicht wissen. Er war seit langem krank, es war schon gut, daß er erlöst wurde. Aber ich vermisse ihn, das tue ich.«
Er schweigt, und ich kann sehen, daß er seinen Vater vermißt, ganz einfach und nicht aufgesetzt, und ich wünschte, es wäre so einfach: daß man seinen Vater einfach vermißte, und Schluß aus.
Ich stehe auf. »Ich muß los«, sage ich. »Das Haus. Ich muß noch was dran tun. Bald kommt der Winter.«
»Das stimmt«‚ sagt er und lächelt. >>Sagen Sie einfach Bescheid, wenn etwas ist. Wir sind ja hier.«

Puneh Ansari
Hoffnun'
S. 89
Das Bedürfnis nach Privatsphäre ist kein "grenzenloser Egoismus" den man sich herausnimmt wie eine "faule Prinzessin" wo man sich schuldgefuehle einblaeuen lassen sollen muesste dass die Vorwürfe bis in die Unendlichkeit weiter gehen immer&immer dass "immer" wenns "was" zum besprechen geben würde man zampackt & aufgebauscht wie ein eixhhoernchen dass man zumindest dann eine Pause braucht bevor man aus der unerträglichkeit heraus irgendwen ersticht, Nein ,,. ist auch nicht weiterhin & wieder nochmal egoistisch Nervliche Überlastung ist real & eine körperliche Qual
Liebe Leute aus Stein:
Die zu elft mit 5 schreibabys neben der Autobahn von cholerikertouretteeltern großgezogenen die einen wegen allem schimpfen als normalzustand nur weil es ihren Dampf ablaesst So wie spucken gähnen oder Tennis spielen
Glaubts mir es ist möglich einfach anders sehr sehr anders drauf zu sein als ihr
Ich weiß ihr denkt das ist "schwach" und "es geht ja eh" aber nein es geht nicht & eben wir sind schwach uns rutschen eines Tages die Finger aus wer weiss greifen zum sushiknife und schlitzen wen zammm in einer Explosion
Menschen sind lebendige Leute mit einer Psyche mit Belastbarkeitsgrenzen man kann nicht emotional boxsack mit ihnen spielen und Müll hineinschmeissen die ganze Zeit und erwarten es passiert nix. jeder muss mal alleine sein.
& mit "wir" mein ich irgendeine hypothetische Person in einer Geschichte am Mond
S. 119
wenn ich krank bin will ich nicht dass mir der Arzt w99 gibt und dann ist die Krankheit einfach weg, sondern ich will miteingebunden sein. ich will meine krankheit spüren und meinen körper erleben wie das fieber hinaufgeht, und wie es dann wieder hinuntergeht ich will den schmerz fühlen und selbst mündig entscheiden können und hineinspüren was ich jetzt mit dem Schmerz unternehmen soll, mir anschaun: will ich jetzt liegen oder was essen oder ein Geschirr zerschlagen & mich freischreien vom Schmerz schauen was mir guttut nachschauen ob ich vielleicht einen Saft trinken will, einen frischen Saft den ich mit den eigenen Händen über mich niederpresse und rinnenlasse ich will mein eigenes blut lecken und es an meinem ganzen Körper verschmieren daran riechen und riechen, es trocknenlassen und malen den Prozess wie es runterbröckelt und es aufklauben und sammeln um es meinen Kindern in Liebe zu schenken wenn sie an dem Punkt ihres Weges sein werden es kennenlernen Ich liebe mein Blut. Es ist mein Leben und es repräsentiert mein Leben
ich will kein Gift intravenös in mich geschossen bekommen von meinem Arzt, die dusch sofort fahren und mich erlösen sondern ich will den scheiss der drübersteht halt im "status" Fieber ist eine positive Regung jedes grad Fieber bringt mich näher zum Triumph

Ralf Rothmann
Im Frühling sterben
S. 177
"Liebe Helene! Danken will ich Dir für Deine Briefe und das Päckchen! Alles kam pünktlich zum Fest hier an, obwohl wir doch mehrfach den Standort gewechselt haben. Die Post jedenfalls scheint noch zu funktionieren, und vielleicht werden wir die nächsten Ostern ja im Frieden verbringen.
Ich weiß nicht, ob Mama es Dir erzählt hat: Vor kurzem hatte ich ein paar Tage Urlaub und habe Papas Grab gesucht. Er ist ganz in der Nähe gefallen, aber
die Kreuze sind oft nicht beschriftet, und es gibt so viele ... Man weiß nicht, wo man anfangen soll mit dem Suchen. Jedenfalls liegt er irgendwo in dieser Erde, und wenn der Krieg vorbei ist, fahren wir mal her. In der Puszta gibt es eine Stille, die ist wie ein Raum oder ein Gewölbe - als würden die Toten die Ohren spitzen.
Deine selbstgebackenen Kekse, besonders die mit Schokolade, waren köstlich! Auch die Dauerwurst hat einen dankbaren Abnehmer gefunden. Ich bin übrigens gerade im Lazarett, aber keine Angst, alles ist heil. Es sind bloß die Nerven, sagt der Sani, eine Art Frontkoller, obwohl ich doch in der Etappe bin. Tatsächlich zittert und zuckt mein Gesicht, ich kann nichts dagegen machen. Rasieren wäre jetzt gefährlich. Doch das legt sich schon, man gibt mir Köllnflocken und Rotwein mit Honig, wie in der Kur.
Der Feind kämpft sich zügig vor, und wir rücken demnächst ab, hinter die Reichsgrenze, wo hoffentlich nicht zu viele Partisanen lauern. Vielleicht kommen wir ja in der Nähe von Wien zum Einsatz, da würde ich endlich mal eine Großstadt sehen.
In Deinem Alter war Ostern immer mein Lieblingsfest. Weil danach alles heller und wärmer wird, mag ich's heute noch mehr als Weihnachten. Eier gibt's hier
zwar auch, mit Blaufett, Kamille und Roter Beete gefärbt, aber kein Birkengrün, die meisten Bäume sind gefällt.
Also, mach's gut, schöne Helene, sie löschen die Lampen. Ich hoffe, das mit dem Husten hat sich gebessert, der Winter ist ja erst mal vorbei. Solltest Du ein feuchtes Zimmer haben, leg Dir Glasscheiben auf den Boden unters Bett, das machen die Leute hier auch. Und grüß die Mama, wenn Du magst. Dein W."
Reinhold Pabel
Walter Kempowski
Echolot
Der Gefreite Reinhold Pabel *1915 im Osten
27. Juni 1941
(…) Als wir vorgestern Feldw. v. Koppelow zu Grabe trugen, merkte ich besonders, wie grausam dies alles ist, was uns angetan wird. Und was wir tun. Das Leben begann für ihn und endete. … Jetzt weiß ich, was Leben ist. Wie man am Dasein hängt, am einfachen, bloßen, nackten Da-Sein-Dürfen, wenn man es entrinnen sieht wie Wasser zwischen den Fingern. Sonst bleibt der Tod immer nur so eine Sache wie ein geschichtliches oder wissenschaftliches Faktum, das man kennt und mit ihm operiert, eben sachlich. Auch der Tod eines anderen. Der nicht zur eigenen Personen-sphäre gehört, wird vom Verstand sachlich registrierend bearbeitet. Aber sobald er eintritt in jene Zone, in der die eigentümlichen Strahlungen des Geheimnisses Person wirken, ändert er sein Gesicht. Er wirkt wirklich. Wenn die MG-Garben um den Stahlhelm pfeifen oder der Trichter der Granaten immer näher auf den Leib rücken, wenn man gegenwärtig sein muss (ohne Fluchtmöglichkeit), daß nun das Licht des eigenen Daseins verlöscht, wenn man das leise Beben des Herzens, das nun, mit einem Mal die Unvollkommenheiten und Unzulänglichkeiten (welche Euphemismen!) vor sich sieht, ganz klein sich ins Ich verbergend spürt, dann spricht der Mund mit dem Herzen zugleich seinen Namen … Sobald die Gefahr vorüber ist, schließt sich der eben noch betende Mund oder öffnet sich zu anderem, was nicht beten ist. Immer muß die Not sein Lehrer sein, er kann das vegetative Glück nicht vertragen. So stark ist seine Neigung in ihm aufzugehen und nach seiner Steigerung zu lechzen. So sind wir alle, die Frommen vielleicht nicht weniger als die … Ich bitte und bete darum, daß für mich und die ich liebe die Not dieses Krieges dem Tat-Gedächtnis innewohnen bleibt, auch wenn die Not vorüber ist. Wenn sie mir noch Zeit lässt, ein „noch“ zu erleben – – –. Was in Seiner Hand liegt.

Robert Macfarlane
Alte Wege
79f
Unser Boot, mit dem wir die Seerouten Richtung Süden segelten, war eine hundert Jahre alte Nussschale. Als ich es zum ersten Mal sah, war es angetaut an drei weitere Wasserfahrzeuge im Hafen von Stornoway auf der Isle of Lewis in den Äußeren Hebriden. Dem Kai am nächsten lag ein rostiger, längst ausgemusterter Fischkutter, der mit armdicken Trossen gesichert war. An dessen Seeseite angetaut war eine fünfzehn Meter lange Hochseejacht in strahlendem Zahnpastaweiß. An deren Seitenwand angetaut war ein EIf-Meter-Motorboot mit verwitterten Deckplanken aus Teak und spitzem Bug. Und an dessen Seitenwand angetaut war schließlich unser kleines Boot: der einzige Mast umgelegt, das terrakottafarbene Segel zusammengefaltet auf der Ruderbank, und die Länge über alles maß weniger als drei Kopf an Fuß liegende Männer.
Obwohl sie aussah wie ein Dinghi oder Dory, war die Broad Bay ein offenes, luggergetakeltes Boot mit klinkerbeplanktem Rumpf aus schottischer Lärche. Ihre Bordwand erhob sich einen halben Meter aus dem Wasser, sie stand zwei Jahre vor ihrem Hundertsten, und zwei von uns würden mit ihr nach Süden durch den Minch segeln, jene Meerenge, die die Isle of Skye und die Äußeren Hebriden von der schottischen Küste trennt. Wir würden zunächst auf die Shiant-Inseln zuhalten, eine vornehmlich aus Dolerit bestehende Inselgruppe im Herzen des Minch, um dann, so Wind und Wetter es zuließen, weiter nach Süden zu segeln, nach Harris und Uist, immer den Routen der Seewege folgend - der astar mara auf Gälisch -, über die seit fast zehntausend Jahren Menschen, Güter, Götter, Ideen und Geschichten gereist sind.
Mein seebanger Blick sagte mir, die Broad Bay sei kaum groß genug für eine Hafenrundfahrt, geschweige denn für die heftigen Gezeitenströme des Minch. Wir hatten keinen Motor (nur ein Paar Ruder); kein Navigationssystem (nur einen Taschenkompass) und nur zwei Mann Besatzung für ein Boot, das auf vier ausgelegt war (darunter ein blutiger Anfänger, der kaum zählte, nämlich ich). Elementarer kann man nicht segeln: ein Rumpf, der forsch die See verdrängt, ein Segel, das den Wind einfängt.

Tim Krohn
Die Erfindung der Welt
1
Eines Abends sass zuhinterst in einem kleinen Schweizer Bergtal, an einer Stelle, die manche das Ende der Welt nennen, ein vierjähriges Mädchen unter einer Felswand und wunderte sich, dass es so klein und der Berg so gross war.
Das Mädchen, das Elisa hiess, hatte den ganzen Nachmittag in dem feinen Sand gesessen, den ein Bächlein jeden Frühling von der Felswand wusch, und hatte Länder und Meere gebaut. Das Wasser war schon wieder so niedrig, dass sie sogar noch atmen konnte, wenn sie die Nase auf den Boden drückte, sie hatte das ausprobiert. Zum Bächebauen war das gerade richtig, für den Schwimmgurt, den sie trug, war es etwas wenig Wasser, das wusste sie auch. Aber als Jon ihr den Schwimmgurt geschenkt hatte, hatte er gesagt, wenn
sie ihn im richtigen Wasser trage, sei sie ein Seesternchen, sie könne ihn aber auch sonst tragen, dann sei sie eben sonst ein Sternchen, und heute hatte sie genau sonst ein Sternchen sein wollen.
Dann, recht früh, ging die Sonne hinter den Berg, es wurde kühl, und Elisa dachte daran, den Weg hinab und nach Hause zu laufen. Doch im selben Augenblick bemerkte sie, wie der riesengrosse Schatten des riesengrossen Bergs sie umarmte, sie hob erstaunt den Kopf und konnte eben zuschen, wie das letzte Restchen Sonne sich hinter dem schwarzen Grat verkroch und plötzlich alles um sie wie leer wurde, und sie spürte, dass etwas sie tief innen stach - dort, wo, wie die Mama sagte, die Liebe hockte.
Erst war es kein schönes Stechen, nur ein trauriges. Dann, nach und nach, war ein schön trauriges daraus geworden, und so oder so war es ein Stechen, wie sie es noch nicht kannte, sie musste unbedingt noch bleiben und sich über das neue Gefühl wundern, sass im Schatten des Berges und fühlte sich darin immer mehr zuhause. Irgendwie ganz ruhig, schon fast müde, und irgendwie doch aufgeregt beobachtete sie, wie über ihr der Himmel erst blauer wurde,
dann blauer und gleichzeitig dunkler. Sie sah zu, wie die Sterne zu leuchten begannen und immer mehr wurden, obwohl sie nie sah, dass einer dazukam, und irgendwann stellte sie fest, dass sie plötzlich sehr vieles zu denken hatte.

Uwe Timm
Der Freund und der Fremde
165ff
Die Suche nach seinem Tod. Ich ging die Straße, die hier noch ein Weg war, vom See, der Fauler Wannensee heißt, entlang, rechts lagen die Gartenlaubenhäuser, einige waren im Laufe der Jahre wintersicher, zum ständigen Wohnen ausgebaut worden. Die seitlich abzweigenden Wege hießen Reiherstieg und Froschfeld. Hinter den Hecken saßen die Familien. Es roch nach Kaffee, Wespen wurden von dem Pflaumenkuchen verscheucht. Die Gespräche verstummten, wenn ich an die Pforte trat, um den Namen zu lesen. Hunde kläfften, und an einigen Türen waren vorgedruckte Schilder mit der Aufschrift: Hier wache ich. Daneben war die Fotografie eines Hundes zu sehen, einmal ein Dobermann, ein andermal ein Schäferhund. Rechter Hand die Häuser, die als Sommerhäuser um die Jahrhundertwende gebaut worden waren, einfach, oft aus Backstein errichtete Bauten. So ging ich langsam, von dem Kläffen der Hunde begleitet, die kaum befahrene Straße entlang.
Zuvor hatte ich in einem Einkaufszentrum unter zwei Wohntürmen mit mehr als 20 Stockwerken einen Kaffee getrunken und den Stadtplan studiert. Ein paar Rentner standen an der Theke und tranken Bier. Es war kurz nach 12 Uhr. Am Nachbartisch saß ein alter Mann, der Kartoffelpuffer aß. Bedächtig schnitt er die Bissen ab, wälzte sie vorsichtig im Mund, nicht genießerisch, eher als gelte es, einen Schmerz zu vermeiden, aß etwas von dem Apfelmus aus dem Glasschälchen, das er, nachdem er die Puffer gegessen hatte, sorgfältig mit dem Löffel auskratzte.
Zwei stark geschminkte Frauen um die Fünfzig saßen am Nebentisch. Unter einem hellbeigen engen Pullover quoll das Fleisch an den BH-Breitbandträgern hervor. Das Wort Rentenanpassung und wenig später das Bruchstück eines Satzes: Der ist einfach ausgestiegen, stell dir vor, und hinter ihm nix.
Ich hatte mir den Weg auf dem Stadtplan eingeprägt.
Eine Schule, dahinter ein paar Wohnhäuser, vierstöckig, frühe sechziger Jahre. Balkone, Blumenkästen, der kurzgemähte Rasen, auf der Rückseite gelegene Eingänge. Am zweiten Eingang, an dem Klingelbrett mit Namensschildern in unterschiedlicher Schrift, eines auch angeklebt und handgeschrieben, las ich den Namen – den Namen dessen, der ihn erschossen hat: Kurras.
Ich stand da und zögerte. Aus dem Hintergrund war das Geschrei spielender Kinder zu hören. Ich hatte mir vorgenommen zu klingeln, zögerte jetzt und sagte mir, er wird genau das sagen, was du weißt, nichts. Tatsächlich aber wußte ich nicht, was ich hätte sagen sollen, wenn er denn die, wie ich gehört hatte, mit Stahl verstärkte Wohnungstür geöffnet hätte. Nur das wußte ich, aggressiv würde ich nicht werden, nicht mehr.
So ging ich denn zurück. Es begann zu regnen. Ich ging langsam durch den gleichmäßig fallenden Regen, kaum daß ich ihn spürte.
Alle meine Geister
235ff
Wir hörten Miles Davis, Kind of Blue, und Loewe zeigte mir den Entwurf der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun und den Plan von Alvar Aalto für das eben fertiggestellte Kulturhaus in Wolfsburg. Beide Bauten sind, betrete ich sie, mit Lothar Loewe verbunden, wie er die verschobenen Seitenflächen Scharouns begeistert deutete, noch war der Bau nicht abgeschlossen. Erstmals hörte ich bei ihm Karlheinz Stockhausen, das Stück Gesang der Jünglinge im Feuerofen. Ein eigentümliches, sich tief einprägendes Hörerlebnis, traumhaft verstörend die sich überlagernden Stimmen, aus denen hin und wieder eine verständlich heraustönte.
Lothar Loewe war ohne jeden Bekehrungseifer ein Kenner der Moderne, ihrer Grafik, Musik, der Architektur und der Literatur. Er zeigte mir das gerade erschienene Textbuch 1 von Helmut Heißenbüttel, las eın Gedicht vor, die Sprache war kalt, reduziert und fern jeder Bildgewohnheit. Die rhythmisierte Wiederholungnabstrakter Wörter erzeugte einen so ganz anderen, fast maschinenhaften Klang als der gewohnt melodische von den mir bis dahin bekannten Gedichten. Wenige Monate später, im Braunschweig-Kolleg, stieß ich mit Benno Ohnesorg wieder auf Helmut Heißenbüttel.
In dem Heft Akzente 1, 1961 waren Gedichte, Thesen und eine kontroverse Diskussion zum Thema Lyrik Heute abgedruckt, mit Beiträgen von Günter Bruno Fuchs, Günter Grass, Rudolf Hartung, Walter Höllerer, Franz Mon, Peter Rühmkorf und Helmut Heißenbüttel.
Helmut Heißenbüttel:
Meditation d
Schraffuren von Spiegelungen und Reflexe und
Nachmittage
Nachmittage und Nachmittage und Nachmittage
Nachmittage sind gebräuchlicher als
Vergangenheiten
Nachmittage sind nicht häufiger als
Vergangenheiten
der Nachmittag mit dem ich benenne ist
benennbarer als Vergangenheiten
langsam entfernte Nachmittage durch eine Schraffur
von Spiegelungen
fortgegangene Fortgänge verweisen
gesprungene Spiegelflächen und gesprungenere
Nachmittage
gesprungenere Nachmittage und gesprungenere Nachmittage
Wohltuend war Heißenbüttels Nüchternheit, wie er die Sprache als Material verstand, den Autor als Produzenten und damit den Text von jedem metaphysischen Qualm befreite.
Aus der weiteren Lektüre Heißenbüttels blieb die Erkenntnis, dass Sprache aus sich eine Struktur entwickeln kann, die nicht auf Abbildbarkeit zielt, sondern in ihrer Dynamik eine eigene Wirklichkeit kreiert und eine Referenz zu jener schafft, die nicht ohne Weiteres beschreibbar ist. Und ganz wichtig, Heißenbüttels Insistieren auf der Fülle der Sprache, der alltäglichen wie der literarischen, auf der Unendlichkeit des vorgefundenen Sprachmaterials, auf den verschiedenen Sprechakten, auf Zitaten, auf Einbeziehung des Alltags, auf Film, Fotografie, Musik und Pop. Die Montagetechnik war für die Struktur eines Romans wie Morenga entscheidend.
242f
Ein das Leben entscheidendes Buch muss uns zufallen, geschenkt werden, meist als Empfehlung, und sehr selten, aber auch das geschieht hin und wieder, schenkt es sich selbst, wie Der Fremde, der im Antiquariat Lüders, Hamburg-Eimsbüttel, auf dem Tisch lag, in einem himmelblauen Leineneinband, und dort auf mich wartete. Eın paar Bleistiftstriche waren auf den Seiten, eın Zettel mit einer Telefonnummer, dahinter ein vergessener Name und diese ersten beiden, so knappen wie harten Sätze: Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.
In Lüders' Handschrift stand da: Sehr guter Zustand. 5 DM. Albert Camus, von dem ich bis dahin nichts gelesen hatte. Johnny-Look, mit dem ich hin und wieder in der Buchhandlung stöberte, legte die fünf Mark aus, nein, er bestand darauf, mir das Buch zu schenken. Ich könne es ihm ja mal ausleihen. Ich ging mit dem Buch zur Kasse - und ahnte nıcht, dass es mein Leben bestimmen würde.
Die Lektüre war eine Offenbarung. Die Faszination, die von diesem Roman ausging, lag in der kühlen sprachlichen Distanz, mit der die Dinge und Menschen beschrieben wurden, bei einer gleichzeitigen Feier der Mittelmeerlandschaft, von Meer, Sonne, Sand. Solche schnörkellosen, lapidaren Sätze, mit denen die Geschichte eines Mannes und eines Mordes ohne klares Motiv erzählt wird, zugleich der Verzicht auf alles Gefühlige und Moralisierende, so etwas hatte ich noch nicht gelesen. Meursault, der ungerührte Held der Geschichte, steht in seiner radikalen Ehrlichkeit, seiner Ablehnung jeder Konvention und in dem Verzicht auf vorschnelles Einverständnis für eine entschiedene Eigenständigkeit.
Um die Wirkung des Romans zu verstehen, der nicht nur mich, sondern viele meiner Generation ergriff, muss man von den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren sprechen, von der Zeit des selbstgefälligen Wirtschafts-wunders, vom Verschweigen der Untaten, der fraglosen Autorität der Eliten, den erstarrten Konventionen, von den Tanztees, Verlobungen, Antritts-besuchen, den seichten Schlagern, den Heimatfilmen, dem einzigen genuin deutschen Filmgenre, von der großen Heuchelei. Der Fund des himmelblauen Buchs bescherte mir eine so ganz andere, nüchtern kritische Sicht auf mich und die Welt, und später am Braunschweig-Kolleg, durch Gespräche mit Benno Ohnesorg angeregt, wurde das Interesse an Frankreich und dem Existenzialismus verstärkt durch die Lektüre der Romane von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, durch die Lyrik von René Char und vor allem durch Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut und Eric Rohmer.
...

Uwe Johnson
Jahrestage, Band 1
35ff
31. August, 1967 Donnerstag
Die Viet Cong setzen ihre Überfälle im Süden des Landes fort. Die Sowjets machen drei Schriftstellern einen geheimen Prozeß. Die Chinesen ziehen dem britischen Geschäftsträger in Peking den Kopf an den Haaren herunter; sie sagen: aus Rache. Weitere sechs Friedhöfe haben die Leiche des Naziführers zurückgewiesen, nun hat die Partei ihn verbrannt und steht Wache neben der Asche.
Was für eine Person stellt Gesine sich vor, wenn sie an die New York Times denkt wie an eine Tante? Eine ältere Person. Auf der Oberschule in Gneez wurden so Lehrerinnen bezeichnet, vorgeschrittenen Alters, humanıstisch gebildet, die in gutem Willen den Lauf der Dinge mißbilligten, in Gesprächen unter vier Augen, wehrlos. Sie hatten einmal den Lauf der Dinge ändern wollen durch ein Studium an den wilhelminischen Universitäten, durch Zelten und Wasserwandern mit Männern ohne Trauschein, durch eigene Arbeit zum Kummer ihrer bürgerlichen Familien, deren Glaubenssätze sie im eigenen Alter, grauhaarig, auf derben Sohlen und womöglich in Hosen wandernd, gegen den Wandel der Zeiten verteidigten: Es schickt sich nicht, eine Revolution in den Sattel zu heben, vielleicht hat sie nicht genug Reitstunden gehabt. Man muß doch auch ans Pferd denken. Es ist wahr, eine solche Äußerung im Unterricht hätte ihnen Entlassung aus dem Schuldienst eingetragen. Sie wurden Tanten mit Nachsicht genannt, nicht unfreundlich, nicht ohne Mitleid. (Der Name Tante für Kindergärtnerinnen, Heldinnen der Bevormundung, war gehässig. Sportscheue Jungen, überängstliche Mädchen wurden Tanten genannt, mit Verachtung.) Jedoch die New York Times kommt Gesine vor wie eine Tante aus vornehmer Familie. Die Familie hat sich ein Vermögen erarbeiten lassen, jedoch nicht in brutaler Art, schlicht zeitgemäß. Die Familie hat sıch verdient gemacht um alle Regıerungen, und alle Regierungen stehen im Geschichtsbuch. Die Tradition der Familie setzt sich in dieser überlebenden Tante fort. Gesine stellt sich Alter vor, eine hagere Figur, harte Falten im Gesicht, bittere Mundschwünge, allerdings dunkle und elegante Kleidung, Beharren auf hochgesteckten Frisuren, eine verkratzte Stimme, Lächeln nur in den Augenwinkeln. Nie Jähzorn. In ihrer Haltung, wie sie die Beine hält, kokettiert sie mit ihrem Alter, es ist der Beweis für ihre Erfahrungen. Sie ist in der Welt unterwegs gewesen, sie hat dem Leben ins schmallippige Antlitz geblickt; ihr kann man nichts vormachen. Sıe hat ihre Affairen gehabt, aber sie war beileibe keine Abenteurerin, es ıst alles standesgemäß zugegangen in den besten Hotels in Europa; das liegt hinter ihr. Sie erwartet Respekt so deutlich, fast lädt sie seine Verweigerung ein. Sie ist ein bißchen hartnäckig, fast aufdringlich, wenn sie sich von Jüngeren ausgeschlossen fühlt. Sie gönnt den jungen Leuten ihren Spaß, solange sie es ist, die den Spaß zumißt. Gesine stellt sich ein Wohnzimmer vor, einen Salon, ausgestattet im Stil des Empire, in dem die Tante Hof hält. Es geht manierlich zu, die Älteren werden zuerst gehört. Es gibt Tee, es gibt Whiskey. Danach gibt es Tee. Die alten Liebhaber kommen wegen der Erinnerung, der Nachwuchs zur Belehrung. Das Personal ist von fanatischer Diskretion. Die Tante raucht (Zigarillos), sie trinkt auch von den harten Sachen; sie versteht einen Witz, solange sie im festen Interesse der Allgemeinheit ıhni unzulässig zu nennen nicht umhinkann. Sie geht mit der Zeit. Sie kann kochen, sie kann backen. Die Tante ist ledig geblieben, es deutet ihre Ansprüche an. Sie gibt Ratschläge in Ehefragen, sie kann sich vorstellen wie es in der Ehe ist (immerhin soll ein Musikkritiker Musik kritisieren, nicht Sinfonien schreiben. Nicht einmal Sonaten). Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine eine solche Tante nicht.) Wir haben es hier mit einer Person zu tun, mit der man die Pferde stehlen gehen kann an allen Tagen, da die Gesetzgebung den Diebstahl der Pferde vorschreibt.
Jedoch ist diese Person nicht nur angenehm.
Ihre Manieren sind nützlich, sind bildend.
Sie brüllt nicht, sie hält Vortrag.
Auf fünfzehn mal dreiundzwanzig Zoll, acht Spalten, bietet sie über zwanzig Geschichten zur freien Auswahl.
Sie nennt einen Angeklagten noch nicht schuldig. Von den täglichen zwei Morden in der Stadt erwähnt sie nur die lehrreichen.
Sie nennt den Präsidenten nicht bei seinem Vornamen, allenfalls das Opfer eines Mordes.
Sie erwähnt Hörensagen als Hörensagen.
Sie läßt noch zu Wort kommen, wen sie verachtet.
Sie spricht mit den Sportlern in der Sprache der Sportler.
Noch auf die Veränderung der Natur weist sie hin.
Sie hilft den Armen durch milde Spenden, und sie untersucht die Armut nach der Wissenschaft.
Sie schilt das unverhältnismäßige Urteil.
Sie hat wenigstens Mitleid.
Sie ist unparteiisch gegen alle Arten der Religion.
Sie bewahrt die Reinheit der Sprache, noch in den Anzeigen ihrer Kunden verbessert sie.
Sie bietet dem Leser höchstens zwei Seiten Reklame ohne eine Nachricht an (außer am Sonntag).
Sie flucht nicht, noch daß sie den Namen Gottes fälschlich gebraucht.
Sie gesteht gelegentlich Irrtümer ein.
Sie kann sich mäßigen und einen Mörder einen umstrittenen Charakter nennen, vom Brigadegeneral aufwärts.
Sie hat die guten Formen mit dem Löffel gegessen. Warum sollten wir ihr nicht vertrauen?
Jahrestage, Band 2
S. 752 ff
9. März, 1968 Sonnabend
Bewölkt, milde, um zwölf Grad; doch nicht ein Tag der South Ferry. Angezogen hat Marie sich wie ftir das Schiff, Hosen und darüber einen Anorak mit Kapuze, für schlechtes Wetter, wenn die Kleidung derb sein muf und nicht zu wertvoll. Marie hat sich den schulfreien Tag ausgesucht, um sich mit ihrer Freundin Francine ins Reine zu bringen, aber mit dem Telefon fand sie sie nicht in dem städtischen Obdachlosenhotel. Nun wollte Marie sie auf den Strafen suchen, in den Slums der Oberen Westseite. Dazu trägt man nicht einen Mantel aus London, da konnte sie leicht beschimpft werden, auch beworfen.
Unsere Slums sind um die Ecke, ausländische Gegend. »Elendsquartiere« sagt man im Deutschen. Aber die Slums in unserem Viertel sind nicht eigens für das Elend vorbereitete Quartiere, anders als die von Bauspekulanten zusammengeklatschten Kasernen für Arbeiter in deutschen Großstädten, ein Bidonville in Paris oder ein Barackendorf für Flüchtlinge. Die Slums in New York sind nicht als Slums gebaut; hier ist der Slum eine Qualle in der Gesellschaft und wandert.
In den Seitenstraßen zwischen den Avenuen sitzt er inzwischen in vielen der brownstones. Es sind vierstöckige Häuser, die ihren Namen von der ursprünglichen Fassade aus rötlich braunem Sandstein haben, und nach dem Bürgerkrieg waren sie geradezu das Abzeichen für bürgerlichen Wohlstand. Die geräumigen Aufgänge waren für würdige Auftritte geschaffen. Die vier Stockwerke waren bestimmt für eine einzige Familie, mit ihren Dienstboten, innen reichlich ausgestattet mit Edelholztafelung, eichenem Parkett, marmornen Kaminen, geschnitzten Türen, gedrechselten Treppenspindeln. Darin gab es Salons, prächtige Gesellschaften; davor haben einmal aufwendige Kutschen gehalten. Es waren Luxusbauten, und obwohl die Fronten mittlerweile abgeblättert sind oder schlampig zugestrichen, immer noch nicht passen zu ihnen der Schmutz am Beischlag, die verrottenden Möbelstücke und Matratzen, die unverdeckten Mülleimer, die verschmierten Fenster, die Reste des Müllarbeiterstreiks, verstreuter Abfall, der liegen bleiben wird, wenn er dem Regen widerstehen kann und dem Wind zu schwer ist.
Es sind aufgegebene Hauser. Gebaut wurden sie für Weiße, Protestanten, Angelsachsen. Die Iren, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in hellen Scharen hierherkamen, versammelten sich in den Miethäusern entlang der Columbus und Amsterdam Avenue, aber viele sparten auf ein solches braunes Haus nach der letzten Mode und freuten sich des Besitzes durch Untervermietung. Die Iren waren die kräftigste politische Gruppe des Viertels, bevor die Juden aus Harlem zuwanderten, überfordert von der anwachsenden Nachbarschaft der Neger. Dann kamen die Neger hierher aus den Ghettos New Yorks, nach dem Zweiten Weltkrieg die Wellen der Puertorikaner, und die weißhäutigen Einwanderer, langst angepasst an die vorgefundene Werteskala, gaben eine Strafe nach der anderen auf. Allerdings nicht ganz. Aus einem solchen Einfamilienhaus kann der Besitzer zunächst einmal vier Wohnungen machen, je eine pro Stockwerk, und mit den erhöhten Mieteinnahmen die Einbuße an Grundstückswert wettmachen. Aus diesen kleinen Wohnungen kann der Hauswirt wiederum Einzelzimmer herstellen. Inzwischen hat er ein Vielfaches des alten Mietzinses. Da seine Mieter, wenn sie aus Harlem oder Brownsville kommen, auch solche Wohnbedingungen noch als eine Verbesserung ihres Lebens ansehen müssen und die spanisch sprechenden Einwohner zu einer Gegenwehr anfangs noch nicht fähig sind, ist es dem Hauswirt unbenommen, weiterhin Reparaturen zu verschleppen, an der Heizung zu sparen, auf einen Hauswart zu verzichten. Die Gesetze sind genau und drohen für alle solche Vernachlässigungen Strafgebühren an, aber Leute ohne Schulbildung und ausreichende Kenntnis der Sprache prallen am bürokratischen Apparat ab, und die Gerichte sind dem Slumwirt milde gesonnen, denn er vertritt die Begriffe von Erwerb und Eigentum.
Erwerb und Eigentum stellen den Slum erst einmal her: die Häßlichkeit und Durchlässigkeit der Trennwände, die nicht erneuerten Fensterscheiben, die defekten Türsicherungen, die kaputten Briefkästen, den glitschigen verkrusteten Dreck schon im Korridor, die verrostete Küche, die Verseuchung der Zellen durch Ungeziefer und durch die Ratten, über die die Vertreter des Volkes sich im vorigen Sommer krumm lachen wollten. Mrs. Daphne Davis in Brownsville in Brooklyn kam im vorigen Sommer dazu, wie ihre Tochter mit einer Ratte spielte. Das Tier war so groß, daß das Kind sagte: Komm her, Katz. Katz, komm. Wenn es so weit ist, geben die Inspektoren der Stadt auf, ob sie nun wegen der Wasserleitungen oder wegen der Feuerausgänge kommen, und auch die Müllarbeiter begreifen sehr schnell. Hier wird der Abfall seltener abgeholt als in bürgerlichen Straßen und auf lässige Art, die Nachfegen nicht kennt. Aber es sind nicht Erwerb und Eigentum, denen die Leviten gelesen werden.
Wenn eine Familie wie die Carpenters III an der West End Avenue den Negerfamilien alles Gute wünscht, jedoch eine Wohnung im eigenen, solide wenn nicht elegant gehaltenen, Appartementhaus zum Guten nicht gehört, dann spricht zumindest Liz Carpenter III von den Slums und beweist sich ohne Zweifel, da diese Schwarzen schlicht nicht verstanden, in einer Zivilisation zu leben, als sei das eine Veranlagung von der Natur aus. Kaum eines jener Argumente, die einer annähernd gleichmäßigen Verteilung des gesellschaft-lichen Eigentums steuern sollen, ist bemüht um Brillanz oder doch den Anschein von Schlüssigkeit. Dies übersieht obendrein, daß nicht sämtliche Neger in Slums wohnen und nicht nur Neger in Slums. Das Vorurteil der amerikanischen Nation gegen ein alteingesessenes Zehntel ihrer Angehörigen mag unbegreiflich sein, schon daß hier nicht die Psychoanalyse beschäftigt wird; die Gegenstände, die mit Hilfe dieses Vorurteils verteidigt werden, sind handfest. Es geht um Arbeitsplätze als Mittel des Einkommens, um Ausbildung als ein Mittel zu besserem Einkommen, um das Recht auf Rechte als eine Sicherung des Einkommens. Die Sache heißt Rennen der Ratten, und das Handikap einiger Gegner kann den eigenen Gewinnchancen doch dienlich sein.
Keine Gruppe hat um ihre Rechte so lange kämpfen müssen wie die Neger. Die davongelaufenen und freigelassenen Sklaven, die im vorigen Jahrhundert in den lässigeren, weniger eingebildeten Norden kamen, wurden da doch isoliert in reservierten Vierteln, ausgebeutet von »weißen« Hausbesitzern und Kaufleuten, ausgeschlossen von gleichberechtigter Erziehung und Ausbildung, immer zuerst gekündigt, immer zuletzt angestellt, und vor ihren Augen wanderte Gruppe nach Gruppe von auswärts ein, faßte Fuß, wurde anerkannt unter den Bürgern, die Deutschen, die Italiener, die Juden, in den fünfziger Jahren die Puertorikaner. Acht Jahre ist es her, und immer noch stimmen die klassischen Zahlen von John F. Kennedy: »Das Negerkind hat ... ungeachtet seiner Begabung, statistisch .. . halb so viel Aussicht, die Oberschule abzuschließen, wie das weiße Kind, ein Drittel so viel Aussicht, die Universitat zu absolvieren, ein Viertel so viel Aussicht, in einem Fachberuf zu arbeiten, und viermal so viel Aussicht, ohne Arbeit zu sein.« Das sagte John Kennedy, als er auf einer Wahlreise war. Was immer die Wurzel sein mag für die traumatische Aussperrung durch die Weißen, die Gruppe der Neger muss aus diesem Grund die höchsten Verluste im Arbeitskampf hinnehmen, konsequent stellen sie die meisten derjenigen Bürger, die die Hoffnung auf Arbeit aufgegeben haben, die zu dieser Hoffnung nie imstande waren, die sich fallen lassen in den Slum.
Der Slum ist ein Gefängnis, in das die Gesellschaft jene deportiert, die sie selbst verstümmelt hat. Das sind Wohnungen, in denen die Wanzen und Schaben nicht mit der geduldigsten Anstrengung im Zaum gehalten werden können, in denen es beim Kühlschrank nicht auf die Kühlung der Nahrungsmittel ankommt, sondern auf die Funktion des Tresors, den das Ungeziefer nicht knacken kann. Wenn ganze Familien, ohne das Geld für Erholung oder Fluchtversuche, in einem einzigen Zimmer wohnen müssen, werden die Kinder Zeugen unausbleiblicher Streitszenen, kommen müde und verstört in die Schulen, mit unvollständigen Hausaufgaben; ihre Leistungen müssen hinter den Anforderungen des Lehrplans zurückbleiben, sie verlassen die Schulen so früh als möglich, sie »fallen heraus« und beginnen in niederen Berufen zu arbeiten, die mit der technischen Entwicklung aussterben werden, und sind ausgebildet für die Armut. Wenn auf der Oberen Westseite zwei Drittel der Neger einzelne Männer sind, so weil eine vom Ernährer verlassene
Familie damit den Anspruch auf Fürsorge-Unterstützung erwirbt; die Wissenschaft hat bereitwillig den »Faktor der Einraumbelegung« erfunden. Die Neger in den Slums fühlen sich vernachlässigt, von der Polizei, ihre Straßen werden spärlicher patrouilliert, Einbrüche bei ihnen rufen eher Langeweile hervor, bei einer Schlägerei wird der Dunkelhäutige bevorzugter festgenommen als der Hellfarbige; dennoch wünschen die Neger schlicht mehr Polizei, zuverlässigeren Schutz (wo die Weißen sich leisten können, eine zivile Aufsichtsbehörde für die Ordnungskräfte zu fördern). (Die Kommunistische Partei Amerikas findet nicht statt.)
Gegenwehr geht ins Leere. Versuchen die Bewohner des Slums einen Streik mit der Miete gegen den Besitzer ihres Hauses, hat er auf seiner Seite die Gerichte. Wenn er es nicht schafft, sie auf die Straße zu setzen, läßt er das Haus sterben. Vor allem auf die Kälte kann er sich verlassen. Dann schafft die Stadt die Bewohner in die Zeughäuser; seine Sorge sind sie nicht mehr. Es lohnt sich, dennoch ein wenig Steuer auf den Besitz zu entrichten, damit die Stadt den unter Hypotheken und brüderlichem Wind wankenden Bau nicht übernimmt; immer ist da Hoffnung, daß die Kommune gerade an seiner Stelle Öffentliches errichten wird. Sind hartnäckige Mieter geblieben, wird es ihnen von Halbstarken, Rauschgiftsüchtigen, Buntmetalldieben besorgt. Davon sind nicht alle freundlich genug, das Wasserhauptrohr abzustellen, bevor sie die Leitungen abmontieren. Wenn es aus der Decke tropft und die Türen sämtlich eingeschlagen sind, ziehen die Letzten aus, und der Besitz befindet sich in ordnungsgemäßen Zustand.
Wo es auf Ordnung nicht mehr ankommen kann, fliegen die Abfälle aus dem Fenster, und wenn sie auf einem Hinterhof landen, könnte es eine Mitteilung sein, Post durch die Luft. Die Weißen hören als Gruppe nicht, vielleicht hört der einzelne weiße Passant etwas, neben dem auf dem Bürgersteig eine Flasche zerplatzt. Bei den Weißen denke ich oft an Gestalten in Leintüchern, Gespenstern, Leichen, die zum Friedhof unterwegs sind. Da die Weißen als Gruppe Hilfe verweigern, warum nicht dem einzelnen Weißen ein Messer aufs Herz setzen und seiner Brieftasche, seiner Ladenkasse, seiner Wohnung Hilfsmittel entnehmen. Da dem Gefangenen des Slum ein Ausweg in das lebenswerte Leben versperrt ist, sollte er lange zögern, dem Leben in den Illusionen und Krankheiten des Rauschgiftes zu entgehen? Da die Gesellschaft um dieses Leben einen Zaun errichtet hat, warum die Normen der Gesellschaft einhalten, warum die Fürsorgerin anders behandeln denn als den Überbringer eine Abschlagszahlung, warum nicht die Kinder betteln schicken, warum noch unter Dächern wohnen. Da die Verbindungen mit der Gesellschaft abgebrochen sind, warum nicht die Kabel öffentlicher Telefone herausreißen; warum eine Adresse hinterlassen, wenn man weggeht, sei es unter die Brücken, auf die Bowery, ins Gefängnis oder in den Krieg in Viet Nam.
Das Wort Slum gibt es auch als Verbum, in der Bedeutung von Spazierengehen in heruntergekommenen und gefährlichen Straßen, und die new yorker Polizei hat vorsorglich fünftausend Schutzhelme für die kommenden Aufstände bestellt.
Seine Ehren der Bürgermeister, John Vliet Lindsay, ist sich da ziemlich sicher. Er erwähnt die Slumghettos oft in seinen Ansprachen, und eines von ihnen, Brownsville in Brooklyn, nennt er Bombsville.
Mrs. Cresspahl and her daughter went slumming this afternoon, und in unseren Slumgegenden waren die Kinder auf der Straße. Darunter waren solche, die mussten die Straße benutzen zum Verrichten der Notdurft, und solche, die ein Badezimmer haben mögen, aber kein Wasser zum Baden darin. Solche, deren Kleidung immer wieder gewaschen und geflickt worden ist, die sich damit nicht in eine Schule unter die Augen von Lehrern wagen. Solche, die ein langst ausgeweidetes Auto auf ein übersehenes Stück Verkäuflichkeit absuchten. Manchmal rannten sie wie wild und spielten Baseball mit einem Besenstiel. Andere waren um Spiele verlegen, standen umher gleich Arbeitslosen, gelangweilt, feindselig. Alle hatten sie gelernt, einen Rauschgiftsüchtigen, einen Homosexuellen, einen Alkoholiker auf der Straße zu erkennen und als alltäglichen Bewohner der Nachbarschaft zu erwarten; der Hund aber bellte die torkelnde Figur mit der Flasche an und konnte sich kaum beruhigen. Wir haben es gesehen. Hier leben wir.

Victor Klemperer
Tagebücher
10. Juli 1942
Freitag vormittag
Die Geschichte von den zehn Meckerlein
Zehn kleine Meckerlein, die saßen mal beim Wein;
der eine sprach von Goebbeles, da waren’s nur noch neun.
Neun kleine Meckerlein, die haben sich was gedacht;
Dem einen hat man’s angemerkt, das waren’s nur noch acht.
Acht kleine Meckerlein, die haben sich was geschrieben;
Beim einen fand man einen Brief, da waren’s nur noch sieben.
Sieben kleine Meckerlein, die fragten sich: >Wie schmeckt’s?<
Der ein sagte: >Affenfraß!<, da waren’s nur noch sechs.
Sechs kleine Meckerlein, die trafen mal ’nen Pimpf;
Der eine sagte >Lausekopp<, da waren’s nur noch fünf.
Fünf kleine Meckerlein, die spielten mal Klavier;
Der eine spielte Mendelsohn, da waren’s nur noch vier.
Vier kleine Meckerlein, die sprachen mal von Ley;
Der eine hat ’n <V> vermißt, da waren’s nur noch drei.
Drei kleine Meckerlein gehörten zur Partei;
Der eine sagte: >Nix wie raus!<, da waren’s nur noch zwei.
Zwei kleine Meckerlein, die hörten einst mal Radio;
Der eine hat zuviel gehört, den griff sich die Gestapo.
Das letzte kleine Meckerlein, das wollt ins Ausland gehn;
Es landet in Oranienburg – da waren’s wieder zehn.

Wolfgang Herrndorf
Bilder deiner großen Liebe
80ff
«Ich hatte auch mal ein Mädchen, und ich meine nicht Tochter. Ich meine Mädchen. Da war ich ein Junge. Ich war zwölf. Ich glaube, ich war zwölf. Ganz genau erinnere ich mich nicht. Ich weiß nicht mal mehr genau, wie sie hieß. Das glaubst du wahrscheinlich nicht. Aber ich weiß wirklich nicht mehr, wie sie hieß. Sie hieß Anne oder so, aber das war nicht ihr richtiger Name. Sie hieß wahrscheinlich Annemarie oder Marianne oder sonst noch ganz anders. Ich habe schon als erwachsener Mann – guck mich an -‚ als erwachsener Mann nächtelang über ihren Namen nachgedacht. Vielleicht auch Mariam. Oder Marie.
Aber ich weiß es nicht mehr. In dem Sommer damals war sie die Anne.
Sie hatte keinen Nachnamen. Sie wohnte auf dem Bauernhof. Der Bauer hieß Kirst, das weiß ich noch, aber wie sie hieß, weiß ich komischerweise nicht mehr, und sie war nicht die Tochter vom Bauern. Sie war immer nur zu Besuch. In den Ferien wahrscheinlich. Oder an Wochenenden. Und dann sahen wir uns, jedes Wochenende. Wobei in meiner Erinnerung immer Wochenende war. Kann sein, dass sie nur ein einziges Mal kam, in den Sommerferien – und die Sommerferien waren unendlich lang. Und wahrscheinlich glaubst du das alles gar nicht. Dass einer den Namen seiner ersten Liebe vergessen kann, das seh ich, so was kann man doch gar nicht vergessen. Aber du bist noch jung, und ich war noch viel jünger als du, und du wirst dich noch wundern.
Ich weiß wirklich nicht, wie sie hieß. Ich weiß kaum, wie sie aussah, und ich weiß auch nicht, was wir machten. Es gab Pferde auf dem Bauernhof, und ich nehme an, sie interessierte sich für Pferde. Sie war ja ein Mädchen. Aber da ist auch kein Bild, wo ich sie mit einem Pferd zusammen sehe. Oder uns. Selbst sie sehe ich nur noch schemenhaft. Irgendwas Dunkles, dunkle Haare oder dunkle Augen. Und das alles ist auch nicht wichtig. Nicht wichtig, wie sie hieß und wie sie aussah und ob Ferien waren oder nicht.
Nicht wichtig, bis auf die Liebe, und im Grunde war auch die Liebe nicht wichtig. Sondern der Weg zu ihr. Das war das größte Glück.
Ein kleiner Sandweg, den ich Tag für Tag ging, erst querfeldein, dann am Knick an den Farnen entlang, ein heller, trockener, staubiger und immer sonnenbeschienener, sich durch die Feldmark windender Weg. Auf dem mir nie jemand begegnet ist. Und wenn mir einmal jemand begegnet wäre und hätte mir erzählt, dass dieser Tag und dieser Weg und wie ich Tag für Tag an immer genau der gleichen Stelle mit der flachen Hand über die Farnblätter streiche, während immer und immer die Sonne scheint, dass in meiner Erinnerung nur das zurückbleiben würde und dass ich nie glücklicher sein würde als in diesem Moment, dann hätte ich ihn angeguckt, wie du mich jetzt anguckst. Weil du nicht weißt, was Zeit ist. Du weißt es nicht. Aber bald wirst du es wissen, und dann liegst du einen Meter fünfzig unter der Erde. Und darum erzähle ich dir das. Weil ich vielleicht der bin, der dir sagt, dass du mit der Hand über die Farne streichst, ohne es zu wissen.
Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich. Und das liegt nicht daran, dass es länger dauert, das Unglück. Es ist einfach so.»
Pause.
«Und natürlich erzähle ich dir das auch noch aus einem anderen Grund. Weil du ihr ein bisschen ähnlich siehst. Anne. Nicht vom Aussehen her. Du bist ja auch nicht der dunkle Typ. Aber vielleicht weißt du, was ich meine. Es gibt Männer, die mögen Mädchen wie dich. Das hast du vielleicht schon mitgekriegt. Es gibt Jungen und Männer, die mögen Mädchen, die so sind wie du. Das sind wenige. Die meisten – fast alle – mögen den anderen Typ.»
Er legt mir die Hand auf die Schulter, sieht mich eine Weile an oder durch mich hindurch, und zieht die Hand dann erschrocken zurück.
«Aber ich bin nicht so. Ich bin alt. Jetzt geh.»
«Ich hab Öl auf der Schulter.»
«Als Erinnerung.»
Beim Weitergehen komme ich an sechs oder sieben seiner Kollegen vorbei, die uns haben sprechen sehen. Sie sitzen auf Getränkekisten, auf Balken, auf dem Boden, halten gelbe Helme in den Händen und trinken Bier. Als ich weiter bin, sagt einer was, alle lachen. Der Alte, der mit mir geredet hat, ist da schon weggegangen.

Wolfgang Schömel
Ohne Maria
Es gab mich nur in Sekunden, etwa dann, wenn ich eine lange, anstrengende Wanderung für einen Schlaf im Sonnenlicht unterbrach, wenn ich aus diesem Schlaf erwachte und nur die Insekten in meiner Nähe hörte, wenn ich dann die Augen öffnete und das Grün der Pflanzen und die Weite der Landschaft regelrecht in mich einströmten. In diesen Sekunden hatte ich das Gefühl, das Alleinsein vollendet und mein Innerstes erreicht zu haben. Wenn es eine Ruhe gab für mich, ein Pause im rastlosen Getriebensein – und von mir aus kann man diese Pause auch „Schönheit“ nennen oder „Gott“ oder sonst wie – dann war es gewiss ein solcher Moment. Und er hatte den Vorteil, dass ich, um ihn zu erreichen, nicht die Hilfe eines anderen bedurfte und nicht der leidenschaftlichen und erfolgreichen Verliebtheit. In diesem selben Moment tauchte allerdings der Wunsch auf, die Situation mit jemanden zu teilen, mit dem ich in symbiotischer Liebesverbundenheit lebte. Aber dieser Jemand hätte in Wirklichkeit eine Abteilung von mir selbst sein müssen, sonst wäre nämlich die Vollendung gar nicht erst entstanden.

Zsuzsa Bánk
Schlafen werden wir später
164f
7. Dezember 2009 – 15:47
…
Eigentlich wollte ich unter meiner dicksten Wolldecke Stifter lesen. Der Advent gibt es vor. Mich mit Sanna und Konrad in den Schnee werfen. In einem Kristall übernachten und vor dem Erfrieren gerettet werden. Stattdessen korrigiere ich Deutscharbeiten. Die Kinder sollen Substantive in Konkreta und Abstrakta einteilen. Mein Schüler Jan hat Schmerz, Trauer, Übelkeit den Konkreta zugeordnet. Obwohl sie als Zustand zu den Abstrakta gehören. Ich will es ihm nicht anstreichen. Es gelingt mir nicht. Alles in mir hält dagegen, ihn mit drei Punkten Abzug zu strafen. Weil es für ihn so richtig ist. Für ihn sind sie alles andere als abstrakt. Trauer, Schmerz, Übelkeit – alles da. Zum Sehen und Anfassen da.
Was soll ich tun?
Jo
8. Dezember 2009 – 18:03
…
Aber dies wollte ich dir davor noch schreiben, schenk Jan die Punkte, bitte, niemand wird es merken, und ich werde schweigen wie ein Grab, darin bin ich geübt, stillheimlich schenkst du sie Jan und sagst ihm eines Tages, übrigens, Jan, es sind keine Konkreta.
…
Márti

Katherine Mansfield
Sämtliche Erzählungen
209
Glück
Obwohl Bertha Young dreißig war, kannte sie noch Augenblicke wie diesen, wo sie Lust hatte, lieber zu rennen statt zu gehen, auf dem Bürgersteig herumzutanzen, Reifen zu treiben, etwas in die Luft zu werfen und aufzufangen oder stillzustehen und zu lachen - über nichts - einfach über
nichts.
Was kann man auch tun, wenn man dreißig ist und an der eigenen Straßenecke plötzlich von einem Glücksgefühl, von einem Gefühl reinen Glücks überwältigt wird, als hätte man plötzlich einen leuchtenden Schnitz Nachmittagssonne verschluckt und als brennte es einem in der Brust und jagte einen kleinen Funkenregen durch den ganzen Körper, bis in jeden Fınger und Zeh?...
Oh, gibt es denn keine Möglichkeit, das auszudrücken, ohne >öffentliches Ärgernis zu erregen<? Wie blöd ist die Zivilisation! Warum hat man einen Körper bekommen, wenn man ihn wie eine kostbare Geige in einen Kasten einsperren muß?
>Nein, das mit der Geige ist nicht ganz, was ich meine<, dachte sie, während sie die Treppe hinaufsprang und in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel wühlte - sie hatte ihn vergessen, wie üblich - und am Briefkasten ratterte. >Das ist es nicht, was ich meine, denn —<
»Danke, Mary!« Sie trat ın den Flur. »Ist das Kindermädchen wieder da?«
»Ja, M'm.«
»Und ist das Obst gekommen ?«
»Ja, M'm. Alles ist da.«
»Tragen Sie bitte das Obst ins Eßzimmer! Ich will es nett anordnen, ehe ich hinaufgehe.«
Im Eßzimmer war es dämmerig und ziemlich kühl. Trotzdem zog Bertha ihren Mantel aus; sie konnte die enge Hülle keinen Augenblick länger ertragen, und die kalte Luft prallte auf ihre Arme.